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DEKONSTRUKTION Deconstrucción (comp.) Justo Fernández López Diccionario de lingüística español y alemán
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Vgl.: |
Derrida Jacques / Peirce Charles Sanders / Text / Interpretation / Sinn / Sind und Bedeutung / Identität |
"Dekonstruktion (franz. dé‑construction, nach dt. De‑struktion), Abbruch, Entblößung).
Phil. Arbeitsweise, entwickelt u. a. von J. Derrida in Anlehnung an Heidegger. Das Programm einer Dekonstruktion der Metaphysik wird ursprünglich von Heidegger als «Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie» formuliert und bezeichnet hier eine Verlagerung des philosophischen Überlieferten in Bezug auf das in der Tradition wirksame Denken. De(kon)struktion ist kritisch in Hinsicht auf die Tradition, aber diese Kritik geschieht im Namen der Tradition. In der französischen Weiterführung (nicht nur bei Derrida, der den Begriff geprägt hat) bedeutet Dekonstruktion die Freilegung der Zweideutigkeit, die Heidegger einmal auf die Formel gebracht hat: Philosophie als Tradition und Philosophie als Denken. Eine Reihe von Arbeiten der französischen Philosophen seit Mitte der 60er Jahre lässt sich so von dieser doppelten Aufgabe her bestimmen: die Zugehörigkeit einer philosophischen Tradition zur Tradition aufzuzeigen und zugleich zu untersuchen, wie diese Formation die Möglichkeit eines Gedankens entfaltet. Diese Aufgabe wird sowohl monographisch, z. B. in Bezug auf Marx, Hegel oder Kant, als auch thematisch in Bezug auf die Schrift, die Kunst, die Politik, die Geschichte in Angriff genommen."
[Hügli, A. / Lübcke, P. (Hg.): Philosophielexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Reinbek: Rowohlt, 1991, S. 121]
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"Die Literatursoziologie etwa befaßt sich hauptsächlich mit dem, was der einzelne oder eine Gemeinschaft mit Texten anfangen. Sie kümmert sich in diesem Sinn nicht um die Unterscheidung intentio auctoris, operis oder lectoris, weil sie nur den Umgang der Gesellschaft mit den Texten registriert, ohne sich Gedanken darüber zu machen, ob dieser Umgang richtig oder falsch sei. Die Rezeptionsästhetik hingegen geht von dem hermeneutischen Prinzip aus, dass das Kunstwerk durch die Interpretationen, die es im Lauf der Jahrhunderte erfährt, immer mehr bereichert werde; sie betrachtet die Beziehung zwischen sozialer Wirkung des Werkes und Erwartungshorizont der sich in einer bestimmten geschichtlichen Situation befindlichen Adressaten; sie streitet aber nicht ab, daß die Interpretationen einer Hypothese über die Natur Tiefen-intentio des Textes entsprechen müssen. Ebenso sucht eine Semiotik der Interpretationen (Theorien vom Modell-Leser und von der Lektüre als einem Akt der Mitarbeit) gewöhnlich im Text nach der Gestalt des konstituierenden Lesers, und das heißt, dass auch sie in der intentio operis das Kriterium zur Bewertung der Manifestationen der intentio lectoris finden möchte.
Im Gegensatz dazu legen die verschiedenen Praktiken der Dekonstruktion das Gewicht auf die Initiative des Adressaten und auf die irreduzible Ambiguität des Textes, was diesen zum bloßen Stimulus für die Willkür der Interpretationen werden läßt. Doch darüber, dass die sogenannte Dekonstruktion keine kritische Theorie, sondern ein Archipel verschiedener Einstellungen und Methoden ist, liest man besser bei Ferraris (1984), Culler (1982), Franci (1989) nach."
[Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation. München / Wien: Carl Hanser, 1992, S. 38-39]
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"Dekonstruktion
Vor allem von Heidegger beeinflusst, entwirft Derrida das Programm einer Dekonstruktion der abendländischen metaphysischen Tradition seit Platon. Wie bei Heidegger kann und soll es dabei nicht darum gehen, von einem außerhalb liegenden Standpunkt mit der Metaphysik abzurechnen; denn jede solche Auseinandersetzung begegnet der Schwierigkeit, selber metaphysische Begriffe verwenden zu müssen. Daher lautet das Grundproblem: Wie lässt sich etwas con der Tradition Verschiedenes denken, wenn das Denken selbst durch sie geprägt ist? Wenn nur mit Begriffen operiert werden kann, die aus dieser Tradition hervorgegangen sind? Ein Angriff auf die Metaphysik von außer macht keinen Sinn, weil es keinen Standpunkt außerhalb geben kann. Eine andere Sprache als die der Tradition steht nicht zur Verfügung. D. Auseinandersetzung vollzieht sich daher als langwieriges Sich-Einlassen auf die Tradition. Ziel ist es, ihre versteckten Voraussetzungen oder Möglichkeitsbedingungen und damit ihre Grundlagen freizulegen.
Charakteristisches Merkmal der metaphysischen Tradition ist, dass sie Sein als Präsens (présence) bestimmt, etwa als Präsenz des Absoluten (parousia) oder als Fortdauer des Gegenstands (der Substanz. Nachdem die Tradition mit Descartes’ Rückgang auf das selbstbewusste Subjekt einem epochalen Wandel unterworfen worden ist, stellte sie die Selbstpräsenz des Subjekts in den Mittelpunkt. Ein anderes Merkmal der tradierten Metaphysik ist das Denken in Gegenüberstellungen, z.B. der Gegenüberstellung von Innerem und Äußerem.
Zum Ausgangspunkt für seine Kritik nimmt Derrida den Begriff des Zeichens. In der metaphysischen Tradition wird die Schrift der Stimme (Rede) untergeordnet. Denn die Stimme zeichnet sich durch unmittelbare Präsenz – der Bedeutung und des Subjekts – aus, während die Schrift bloß als äußere, sekundäre Darstellung der Stimme gilt. Sie ist als Schreiben eine »Veräußerlichung« (extériorisation), ein Auf-Abstand-Bringen und daher gefährlich, sofern man sich in ihr verlieren kann.
Die Dekonstruktion besteht nun in einem doppelten Gegenzug: zum ersten in einem Umkehren des Prioritätsverhältnisses von Stimme und Schrift, zum zweiten in einer Verschiebung des Schriftbegriffs: Dieser wird »verallgemeinert«. Dass etwas nur im Verhältnis zu etwas »anderem« präsent sein kann, ist der Ausgangspunkt. Etwas kann nur durch die Verschiedenheit zu diesem anderen hervorgebracht werden. So erfahren wir die Gegenwart (le présent) nur aus dem Vergangenen. Das »andere«, das Abwesende, muss also als solches im Gegenwärtigen irgendwie vorhanden sein. Es muss eine »Spur« gelegt haben. Und erst in dieser Spur von etwas anderem gibt es Gegenwärtiges., Präsenz. Für die grundlegende Hervorbringung des Unterschieds (différence) benutzt Derrida den Begriff der »eingesetzten Spur«. Die Hervorbringung des Unterschieds in der Spur ist die Möglichkeitsbedingung dafür, dass etwas präsent ist. Diese »ursprüngliche« Hervorbringung von Unterschied als Einritzung oder Einsetzung von Unterschieden kann in einem erweiterten Sinn »Schrift« heißen: Die Hervorbringung geschieht durch gleichzeitiges Auf-Abstand-Bringen. Damit wird ein Grundmerkmal der Schrift festgehalten und »verallgemeinert«. Derrida kann deshalb sein Projekt Grammatologie nennen, Lehre von der Schrift. Diese allgemeine Theorie der Schrift hat die »verallgemeinerte« Schrift zum Gegenstand, das »ursprüngliche« Schreiben oder Bilden von Unterschieden.
Die metaphysische Tradition operiert mit dem Begriff einer letzten Instanz, einer letzten Bedeutung. Aber das »Ursprüngliche« ist nicht ein einheitsstiftender Sinn, sondern die Hervorbringung von Unterschied. D. Dekonstruktion ist also ein Versuch, die metaphysische Tradition insbesondere in Bezug auf das Verhältnis zwischen Gegenwart und Differenz zu problematisieren, wobei diese Begriffe im Licht der erweiterten Schriftkonzeption gesehen werden.
Beim späteren Derrida spielt das Problem von Rede, Gegenwart und Schrift (im weiten Sinn) eine weniger große Rolle. In dieser Periode diskutiert Derrida die philosophische Praxis (hierunter auch die Unterrichtspraxis) seiner Generation. Mit De l'esprit (1988) erreicht diese Diskussion mit einer eindringlichen Studie über Heidegger, insbesondere über das Verhältnis zwischen Heideggers Denken und den Dichtern, ihren Höhepunkt. Derrida fragt nach dem, was Heidegger sich in der Wieder-Holung des Dichterworts zu sagen erlaubt, wo auch Schlüsselworte aus der philosophischen Tradition Eingang finden, die der Philosoph Heidegger selbst niemals anwenden würde. So die Kategorie Geist, die in Heideggers Trakl-Deutung »übernommen« wird. In dieser Deutung nähert sich die Bedeutung von Geist der Bedeutung von »Flamme«. Der Geist ist nicht nur ein Funke der Inspiration, sondern auch das heilige Feuer, der Herd des Menschen, sein Vaterland – so wie Deutschland Verwalter des heiligen Feuers Europas, der Philosophie, ist. Aus dieser Sicht versucht der spätere Derrida, Heidegger als metaphorische Fortsetzung der philosophischen Tradition einzuordnen."
[Hügli, A. / Lübcke, P. (Hg.): Philosophielexikon. Personen und Begriffe der abendländischen Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart. Reinbek: Rowohlt, 1991, S. 124-125]
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"Jonathan Culler: Die Dekonstruktion der westlichen Metaphysik nach Derrida.
Der Begriff Dekonstruktion, selbst ein Hybrid aus den binären Oppositionen Konstruktion und Destruktion, gilt als wichtigstes Element des Poststrukturalismus. Geprägt wurde er "von dem französischen Philosophen Jacques Derrida (1930) und impliziert, dass die hierarchischen Oppositionen des westlichen metaphysischen Denkens" Hawthorn, p. 47ff., das Derrida als Logozentrismus bezeichnet, Konstruktionen oder ideologische Auflagen sind, die auf binären Oppositionen sowie auf einem externen Referenzpunkt, einer Präsenz wie Gott, Wahrheit, Ursprung, Ursache, Transzendenz oder einem Zentrum beruhen, wobei all’ diese Begriffe lediglich Metaphern füreinander ohne eigentlichen Inhalt sind, weil das transzendentale Signifikat, auf das diese Signifikanten jeweils verweisen, nicht darstellbar ist.
Für Derrida besteht die gesamte Geschichte des Logozentrismus, der westlichen Metaphysik, aus einer Kette von Ersetzungen eines Zentrumsbegriffs durch weitere, ebenso metaphorische Begriffe. Philosophien sind für ihn Versionen des Logozentrismus, dieser aber ist für ihn immer die Annahme einer Ordnung von Sinn. Derrida verwendet das griechische Wort logos, um darauf hinzuweisen, dass hinter dem Logozentrismus stets die unausgesprochene Annahme steht, dass das Wort im Gegensatz zur Schrift geoffenbarte Wahrheit sei. Diesem „Glauben an absolute und extrasystemische Bedeutungsdeterminanten" Hawthorn, p. 259 will die Dekonstruktion die Grundlage entziehen.
Die Doppelstrategie der Dekonstruktion
Die Dekonstruktion will das westliche metaphysische Denken unterminieren, indem sie in einer Doppelstrategie dessen innere Widersprüche aufzeigt. Diese Strategie besteht darin, dass in einem ersten Schritt die Hierarchie der klassischen philosophischen Gegensätze umgekehrt wird. Der zweite Schritt besteht darin, das System hierdurch generell in Frage zu stellen:
"Die Dekonstruktion muss, fährt Derrida fort, "durch eine doppelte Geste, eine doppelte Schreibweise eine Umkehrung des klassischen Gegensatzes und eine generelle Deplazierung des Systems praktizieren. (…)" Der Praktiker der Dekonstruktion arbeitet innerhalb eines Begriffssystems, aber in der Absicht, es aufzubrechen." Culler, p. 95
Um aufzuzeigen, wie man einen Diskurs dekonstruiert, wird auf die Nietzscheanische Dekonstruktion der Kausalität verwiesen:
"Die Kausalität ist ein fundamentales Prinzip unseres Universums. Nähmen wir nicht für selbstverständlich an, dass ein Ereignis ein anderes verursacht, dass Ursachen Wirkungen haben, könnten wir nicht so leben oder denken wie wir es tun. Das Kausalitätsprinzip setzt die logische und zeitliche Qualität der Ursache gegenüber der Wirkung voraus. Aber (…) dieser Begriff der kausalen Struktur ist nicht gegeben, sondern das Produkt einer bestimmten tropologischen oder rhetorischen Operation, einer chronologischen Umdrehung. Nehmen wir einmal an, jemand empfindet Schmerz. Dies veranlasst ihn dazu, nach einer Ursache zu suchen; indem er vielleicht eine Nadel erblickt, postuliert er eine Beziehung und kehrt die wahrgenommene oder phänomenologische Ordnung Schmerz - Nadel um und erstellt eine kausale Folge: Nadel - Schmerz. «Das Stück Außenwelt, das uns bewusst wird, ist nachgeboren nach der Wirkung, die von außen auf uns geübt ist, ist nachträglich projiziert als deren ‹Ursache› … In dem Phänomenalismus der ‹inneren Welt› kehren wir die Chronologie von Ursache und Wirkung um. Die Grundtatsache der ‹inneren Erfahrung› ist, dass die Ursache imaginiert wird, nachdem die Wirkung erfolgt ist …» (Werke, Bd. 3, S. 804). Das kausale Schema wird durch eine Metonymie oder Metalepsis (Ersetzung der Wirkung durch die Ursache) ersetzt; es ist also keine unbezweifelbare Grundlage, sondern das Produkt einer rhetorischen Operation." Culler, p. 96-97
Es ist wichtig, dabei zu verstehen, dass die Dekonstruktion nicht das Kausalprinzip insgesamt verwirft, sondern die Umkehrung der Gegensätze durchaus innerhalb des Systems vornimmt. Die sich hieraus ergebenden Implikationen führen jedoch dazu, dass der Ursprungsbegriff seine «metaphysische Qualität» verliert, als bloßes gedankliches Konstrukt denunziert wird.
„Die Unterscheidung von Ursache und Wirkung macht aus der Ursache einen Ursprung, der logisch und zeitlich vorausgeht. Die Wirkung ist abgeleitet, sekundär, von der Ursache abhängig. (…) Wenn die Wirkung das ist, was verursacht, dass die Ursache zur Ursache wird, dann sollte eigentlich die Wirkung, nicht die Ursache, als Ursprung angesehen werden. (…) Wenn die Ursache wie auch die Wirkung die Position des Ursprungs einnehmen können, dann ist der Ursprung nicht mehr ursprünglich, er verliert sein metaphysisches Privileg.” Culler, p. 98
Auf die Bibel angewendet erklärt dies auch das ehemals provokante Nietzscheanische «Gott ist tot» aus dem Zarathustra, denn in Mose 1,26-27 steht, dass Gott den Menschen nach seinem Bilde schuf. Umgekehrt wird für den säkularisierten Menschen eher ein Schuh daraus: «Wenn die Dreiecke einen Gott hätten, wäre er dreieckig (Simmel)» steht vorne in meiner Bibel, die ich, durchaus angemessen, Second-hand erworben habe.
"Metaphysische Welt. – Es ist wahr, es könnte eine metaphysische Welt geben; die absolute Möglichkeit davon ist kaum zu bekämpfen. Wir sehen alle Dinge durch den Menschenkopf an und können diesen Kopf nicht abschneiden; während doch die Frage übrig bleibt, was von der Welt noch da wäre, wenn man ihn doch abgeschnitten hätte. Dies ist ein rein wissenschaftliches Problem und nicht sehr geeignet, den Menschen Sorge zu machen; aber alles, was ihnen bisher metaphysische Annahmen wertvoll, schreckenvoll, lustvoll gemacht, was sie erzeugt hat, ist Leidenschaft, Irrtum und Selbstbetrug; die allerschlechtesten Methoden der Erkenntnis, nicht die allerbesten, haben daran glauben lehren. Wenn man diese Methoden als das Fundament aller vorhandenen Religionen und Metaphysiken aufgedeckt hat, hat man sie widerlegt!"
Nietzsche: Von den ersten und letzten Dingen, Bd. 1, p. 237
[http://www.itap.de/homes/otto/pynchon/dekon.htm#strat] © Otto Sell – Monday, June 26, 2000.
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"Eine ähnliche Betrachtung hat auch die Metapher zu gelten. Sie ist im Gedicht so sehr in das Spiel der Klänge, Wortsinne und Redesinn eingebunden, dass sie als Metapher gar nicht zur Abhebung kommt. Denn hier fehlt die Prosa der gewöhnlichen Rede überhaupt. Selbst in dichterischer Prosa hat daher die Metapher kaum eine Funktion. Sie verschwindet gleichsam in der Weckung der geistigen Anschauung, der sie dient. Das eigentliche Herrschaftsgebiet der Metapher ist vielmehr die Rhetorik. In ihr genießt man die Metapher als Metapher. In der Poetik verdient die Theorie der Metapher so wenig einen Ehrenplatz, wie die des Wortspiels.
Der Exkurs lehrt, wie vielschichtig und wie differenziert das Zusammenspiel von Laut und Sinn in Rede wie in Schrift ist, wenn es sich um Literatur handelt. Man fragt sich, wie überhaupt die Zwischenrede des Interpreten in den Vollzug dichterischer Texte zurückgenommen werden kann. Die Beantwortung dieser Frage kann nur eine sehr radikale sein. Im Unterschied zu anderen Texten ist der literarische Text nicht von dem Dazwischenreden des Interpreten unterbrochen, sondern von seinem beständigen Mitreden begleitet. Das lässt sich an der Struktur der Zeitlichkeit, die aller Rede zukommt, zur Ausweisung bringen. Allerdings sind die Zeitkategorien, die wir im Zusammenhang mit Rede und mit sprachlicher Kunst gebrauchen, von eigentümlicher Schwierigkeit. Man redet da von Präsenz und, wie ich es oben tat, sogar von Selbstpräsentation des dichterischen Wortes. Es ist aber en Trugschluss, wenn man solche Präsenz von der Sprache der Metaphysik aus als die Gegenwärtigkeit des Vorhandenen oder vom Begriff der Objektivierbarkeit aus verstehen will. Das ist nicht die Gegenwärtigkeit, die dem literarischen Werk zukommt, ja, sie kommt überhaupt keinem Text zu. Sprache und Schrift bestehen immer in ihrer Verweisung. Sie sind nicht, sondern sie meinen, und das gilt auch dann noch, wenn das Gemeinte nirgendwo sonst ist als in dem erscheinenden Wort. Dichterische Rede ist nur im Vollzug des Sprechens bzw. des Lesens selbst vollzogen, und d.h., sie ist nicht da, ohne verstanden zu sein.
Die Zeitstruktur des Sprechens und des Lesens stellt ein weithin unerforschtes Problemgebiet dar. Dass das reine Schema der Sukzession auf Sprechen und Lesen nicht anzuwenden ist, wird einem sofort klar, wenn man sieht, dass damit nicht das Lesen, sondern das Buchstabieren beschrieben ist. Wer beim Lesenwollen buchstabieren muss, kann gerade nicht lesen. Ähnliches wie beim stillen Lesen gilt vom lauten Vorlesen. Gut vorlesen heißt, das Zusammenspiel von Bedeutung und Klang dem anderen so vermitteln, dass er es für sich und in sich erneuert. Man liest jemandem vor, und das heißt, dass man sich an ihn wendet. Er gehört dazu. Vorsprechen wie Vorlesen bleibt «dialogisch». Sogar das laute Lesen, bei dem man sich selbst etwas vorliest, bleibt dialogisch, sofern es die Klangerscheinung und die Sinnerfassung möglichst in Einklang bringen muss. [...]
Das gilt für alles Hören wie Lesen. Im Falle literarischen Texte ist die Sachlage noch weit komplizierter. Da geht es nicht allein um das Abernten einer durch den Text vermittelten Information. Man eilt nicht ungeduldig und gleichsam unbeirrbar auf das Sinn-Ende zu, mit dessen Ergreifung das Ganze der Mitteilung erfasst wird. Gewiss gibt es auch hier so etwas wie ein schlagartiges Verstehen, in dem die Einheit des Gebildes aufleuchtet. Beim dichterischen Text ist das ebenso wie beim künstlerischen Bild. Sinnbezüge werden – wenn auch vielleicht vage und fragmentarisch – erkannt. Aber in beiden Fällen ist der Abbildbezug auf das Wirkliche suspendiert. Der Text bleibt mit seinem Sinnbezug das einzig Präsente. Wenn wir literarische Texte sprechen oder lesen, werden wir daher auf die Sinn- und Klangrelationen zurückgeworfen, die das Gefüge des Ganzen artikulieren, und das nicht nur einmal, sondern immer wieder. Wir blättern gleichsam zurück, fangen neu an, lesen neu, entdecken neue Sinnbezüge, und was am Ende steht, ist nicht das sichere Bewusstsein, die Sache nun verstanden zu haben, mit dem man sonst einen Text hinter sich lässt. Es ist umgekehrt. Man kommt immer tiefer hinein, je mehr Bezüge von Sinn und Klang einem ins Bewusstsein eingehen. Wir sind dann in ihm darin, so wie jeder, der spricht, in den Worten, die er sagt, darin ist und sie nicht in einer Distanz hält, wie sie für den gilt, der Werkzeuge anwendet, sie nimmt und weglegt. Die Rede von Anwenden von Worten ist daher seltsam schief. Sie trifft nicht das wirkliche Sprechen, sondern behandelt Sprechen mehr wie den Gebrauch des Lexikons einer fremden Sprache. So muss man grundsätzlich die Rede von Regel und Vorschrift einschränken, wenn es sich um wirkliches Sprechen handelt. Das gilt aber erst recht vom literarischen Text. Er ist ja nicht deshalb richtig, weil er das sagt, was ein jeder sagen würde, sondern hat eine neue, einzigartige Richtigkeit, die ihn als ein Kunstwerk auszeichnet. Jedes Wort «sitzt», so dass es fast unersetzbar scheint und in gewissem Grade wirklich unersetzbar ist.
Es war Dilthey, der in Fortentwicklung des romantischen Idealismus hier die ersten Orientierungen gegeben hat. In Abwehr des zeitgenössischen Monopolismus des Kausaldenkens sprach er statt von dem Zusammenhang von Ursache und Wirkung von Wirkungszusammenhang, also von einem Zusammenhang, der zwischen den Wirkungen selber (unbeschadet dessen, dass sie alle ihre Ursachen haben) besteht. Er hat dafür den später zu Ehren gekommenen Begriff «Struktur» eingeführt und hat gezeigt, wie das Verstehen von Strukturen notwendig zirkuläre Form hat. Ausgehend vom musikalischen Hören, für das die absolute Musik durch ihre extreme Begriffslosigkeit ein Paradebeispiel ist, weil sie alle Abbildtheorie ausschließt, hat er von Konzentrierung in einem Mittelpunkt gesprochen und die Temporalstruktur des Verstehens zum Thema gemacht. In der Ästhetik spricht man in ähnlichem Sinne, sowohl bei einem literarischen Text wie bei einem Bilde, von «Gebilde». In der unbestimmten Bedeutung von «Gebilde» liegt, dass etwas nicht auf sein vorgeplantes Fertigsein hin verstanden wird, sondern dass es sich gleichsam von innen heraus zu einer eigenen Gestalt herausgebildet hat und vielleicht in weiterer Bildung begriffen ist. Es leuchtet ein, dass es eine eigene Aufgabe ist, dergleichen zu verstehen. Die Aufgabe ist, das, was ein Gebilde ist, in sich aufzubauen, etwas, was nicht «konstruiert» ist, zu konstruieren – und das schließt ein, dass alle Konstruktionsversuche wieder zurückgenommen werden. Während die Einheit von Verstehen und Lesen sich sonst in verständnisvollem Lesen vollzieht und dabei die sprachliche Erscheinung ganz hinter sich lässt, redet beim literarischen Text ständig etwas mit, das wechselnde Sinn- und Klangbezüge präsent macht. Es ist die Zeitstruktur der Bewegtheit, die wir das Verweilen nennen, die solche Präsenz ausfüllt und in die alle Zwischenrede der Interpretation einzugehen hat. Ohne die Bereitschaft des Aufnehmenden, ganz Ohr zu sein, spricht kein dichterischer Text."
[Gadamer, Hans-Georg: "Text und Interpretation" (1983). In: Grondin, Jean (Hrg.): Gadamer-Lesebuch. Tübingen: Mohr, 1997, S. 166-170]
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Dekonstruktivismus
"Darüber hinaus vertritt eine ganze Schule von Cyberspace‑Theoretikern (der bekannteste von ihnen ist Sherry Turkle) die Auffassung, dass Cyberspacc‑Phänomene in unserer Alltagserfahrung das dekonstruktivistische »dezentrierte Subjekt« begreifbar machten. Man sollte die »Dissemination« des einzigartigen Selbst in eine Fülle miteinander konkurrierender Agenten zu einem »CollectiveMind«, zu einer Vielfalt von Selbst‑Bildernohne übergeordnetes Koordinationszentrum, wie sie im Cyberspace existiert, gutheißen und sie vom pathologischen Trauma abkoppeln. Wenn ich in virtuellen Räumen spiele, dann ermöglicht mir dies die Entdeckung neuer Seiten und zahlreicher, veränderlicher Identitäten an »mir« und lässt mich so die ideologischen Mechanismen bei der Herstellung des Selbst, die dieser Produktion/Konstruktion innewohnende Gewalt und Willkür am eigenen Leib erleben ...
Man sollte hieraus freilich nicht die übereilte Schlussfolgerung ziehen, dass es sich bei Dennett [Daniel C. Dennett, Consciousness Explained, New York 1994 S. 410. 32 S. 44] um eine Art dekonstruktivistischen Wolf im Schafspelz der empirischen Wissenschaft handelt. Es gibt eine Kluft, die Dennetts evolutionäre Naturalisierung des Bewusstseins für immer von der dekonstruktivistischen »meta‑transzendentalen« Untersuchung der Bedingungen der (Un‑) Möglichkeit des philosophischen Diskurses trennt. Wie Derrida in seiner Weißen Mythologie [Jacques Derrida, »La mythologie blanche«, in: Poétique 5 (1971), S. 1‑52] exemplarisch dargelegt hat, ist es nicht mit der Feststellung getan, dass »alle Begriffe Metaphern sind«, dass es keinen reinen epistemologischen Schnitt gibt, da die Nabelschnur, die die abstrakten Begriffe mit den Alltagsmetaphern verbindet, irreduzibel ist. Zunächst einmal geht es nicht einfach darum, dass »alle Begriffe Metaphern sind«, sondern darum, dass der Unterschied zwischen einem Begriff und einer Metapher immer minimal metaphorisch ist, d. h. auf irgendeiner Metapher beruht. Noch wichtiger ist der entgegengesetzte Schluss: Die Reduktion eines Begriffs auf ein Bündel von Metaphern muss immer schon auf einer impliziten philosophischen, begrifflichen Bestimmung des Unterschieds zwischen Begriff und Metapher beruhen, d. h. genau auf jenem Gegensatz, den sie zu unterminieren sucht. Wir bleiben daher immer in einem Teufelskreis gefangen: ja, es stimmt, es ist unmöglich, einen philosophischen Standpunkt einzunehmen, der von den Zwängen der alltäglichen naiven lebensweltlichen Einstellungen und Begriffen unberührt wäre; doch obgleich er unmöglich ist, ist dieser philosophische Standpunkt zugleich unvermeidlich. Genauso argumentiert Derrida im Hinblick auf die bekannte historistische These, die gesamte aristotelische Ontologie der zehn Seinsmodi sei eine Folge/Ausdruck der griechischen Grammatik: Das Problem ist, dass diese Reduktion der Ontologie (ontologischer Kategorien) auf einen Effekt der Grammatik einen gewissen Begriff (kategorische Bestimmung) des Verhältnisses zwischen Grammatik und ontologischen Begriffen voraussetzt, der an sich bereits metaphysisch‑griechisch ist. [Jacques Derrida, »Le supplément de la copule«, in: Marges de la philosophie, Paris 1972]
Wir sollten uns immer dieser subtilen Haltung Derridas bewusst sein, aufgrund deren er die Fallgrube eines naiven Realismus ebenso vermeidet wie die eines unmittelbaren philosophischen Fundamentalismus: Eine »philosophische Fundierung« unserer Erfahrung ist unmöglich, doch zugleich notwendig ‑ obwohl alles, was wir wahrnehmen, verstehen, artikulieren, natürlich durch einen Horizont des Vorverständnisses überdeterminiert ist, bleibt dieser Horizont selbst letztlich undurchdringlich. Derrida ist also eine Art Metatranszendentalist, auf der Suche nach den Bedingungen der Möglichkeiten des philosophischen Diskurses. Wenn uns die präzise Art, in der Derrida den philosophischen Diskurs von innen untergräbt, entgeht, reduzieren wir die »Dekonstruktion« einfach nur auf einen weiteren naiven historistischen Relativismus. Derridas Haltung ist hier daher derjenigen Foucaults entgegengesetzt, der, als man ihm vorhielt, er spreche von einer Position aus, deren Möglichkeit im Rahmen seiner eigenen Theorie nicht vorgesehen sei, amüsiert antwortete: »Diese Art Fragen berührt mich nicht: Sie gehören zum Diskurs der Polizei, dessen Akten die Identität des Subjekts konstruieren!« Mit anderen Worten, die eigentliche Lehre der Dekonstruktion scheint die zu sein, dass man die ontologische Frage nicht ad infinitum hinausschieben kann; zutiefst symptomatisch für Derrida ist sein Changieren zwischen dem hyperreflexiven Ansatz einerseits, der von vornherein die Frage danach, »wie die Dinge wirklich sind«, verwirft und sich selbst auf dekonstruktivistische Kommentare der dritten Ebene über die Widersprüchlichkeiten der Lektüre des Philosophen A durch den Philosophen B beschränkt, und andererseits direkten »ontologischen« Aussagen darüber, dass différance und architrace die Struktur alles Lebenden bezeichnen und als solche bereits in der animalischen Natur am Werke seien. Man darf hier die paradoxe Verknüpfung dieser beiden Ebenen nicht übersehen: Dasselbe Merkmal, das uns für immer daran hindert, das intendierte Objekt unmittelbar zu begreifen (die Tatsache, dass unser Begreifen immer von einer dezentrierten Andersheit gebrochen und »vermittelt« ist), verbindet uns auch mit der grundlegenden protoontologischen Struktur des Universums.
Die Dekonstruktion impliziert also zwei Verbote: Sie verbietet den »naiven« empiristischen Ansatz (»lasst uns das in Frage stehende Material sorgfältig untersuchen und dann allgemeine Hypothesen darüber aufstellen ...«) ebenso wie allgemeine unhistorische metaphysische Thesen über den Ursprung und die Struktur des Universums. Dieses doppelte Verbot, das die Dekonstruktion klar und unzweideutig definiert, zeugt von ihren kantischen transzendentalen philosophischen Ursprüngen, denn kennzeichnet dieses selbe Verbot nicht auch Kants philosophische Revolution? Einerseits impliziert der Begriff der transzendentalen Konstitution der Wirklichkeit den Verlust eines direkten, naiv empiristischen Zugangs zur Wirklichkeit, andererseits impliziert er das Verbot der Metaphysik, d. h. der allumfassenden Weltsicht, welche die noumenale Struktur des Universums als Ganzes bereitstellt. Mit anderen Worten, man sollte sich immer im Klaren sein, dass Kant den Begriff der transzendentalen Dimension, weit davon entfernt, einfach nur einen Glauben in die konstitutive Macht des (transzendentalen) Subjekts auszudrücken, deswegen einführt, um auf die grundlegende und unüberwindbare Aporie der menschlichen Existenz zu antworten: Der Mensch strebt zwangsläufig einen alles umfassenden Begriff der Wahrheit, eine universelle und notwendige Erkenntnis an, doch zugleich bleibt ihm diese Erkenntnis für immer verwehrt."
[Zizek, Slavoj: Die gnadenlose Liebe. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2001, S. 44-46]
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"Unbegrenzte Semiose und Dekonstruktion
Die unbegrenzte Semiose hat also zwar nichts zu tun mit der hermetischen Abdrift, wird aber häufig zitiert im Zusammenhang mit einer anderen Form von Abdrift, nämlich der von der Dekonstruktion propagierten.
Derrida zufolge ist ein geschriebener Text eine Maschine, die eine unbestimmte différence erzeugt. Da er seiner Natur nach eine »testamentarische Beschaffenheit« hat, gewinnt oder leidet ein Text durch die Abwesenheit des Subjekts des Schreibens und des Bezeichneten oder des Referenten (vgl. 1967).
Zu sagen, dass ein Zeichen durch die Abwesenheit seines Erzeugers und seines Referenten leide, ist nicht unbedingt gleichbedeutend mit der Aussage, dass dieses Zeichen keinen wörtlichen Sinn habe. Derridas Ziel ist es, eine (mehr philosophische als literaturkritische) Praxis zu instaurieren, um jene Texte herauszufordern, die von der Vorstellung einer definiten, definitiven und autorisierten Bedeutung beherrscht scheinen. Er möchte weniger den Sinn eines Textes herausfordern, als jene Metaphysik der Präsenz, die eng mit einem Interpretationsbegriff verbunden ist, der auf der Vorstellung einer definitiven Bedeutung beruht. Was Derrida zeigen möchte, ist die Macht der Sprache und ihre Fähigkeit, mehr zu sagen, als sie wörtlich sagen will. Sobald man dem Text die angeblich hinter ihm stehende subjektive Intention nimmt, haben seine Leser nicht mehr die Pflicht oder die Möglichkeit, dieser abwesenden Intention treu zu bleiben. Und dann kann man zu dem Schluss kommen, dass die Sprache in einem Spiel vielfacher Signifikanten gefangen sei, dass ein Text nicht die Verkörperung eines eindeutigen und absoluten Signifikats ist, dass es kein transzendentales Signifikat gibt, dass der Signifikant nie in einer Relation der Ko-Präsenz zu einem Signifikat stehen kann, das ständig verschoben und erweitert wird, und dass jeder Signifikant einem anderen so korreliert ist, dass nichts außerhalb der Signifikantenkette steht, die ad infinitum weitergeht.
Ich habe bewusst den Ausdruck ad infinitum verwendet, weil er daran erinnert, dass Peirce (CP: 2.303) den gleichen Ausdruck benutzt, um den Prozess der unbegrenzten Semiose zu definieren. Ist es legitim zu sagen, die unendliche Abdrift sei eine Form der unbegrenzten Semiose im Peirceschen Sinn? Unterstützt könnte sine solche Vermutung dadurch werden, dass Rorty die Dekonstruktion und andere Formen des so genannten »Textualismus« als Fälle von »Pragmatismus« eingeordnet hat. [...]
Der Pragmatismus, von dem Rorty spricht, ist nicht der Pragmatismus Peirce. Rorty weiß sehr wohl, dass Peirce, obwohl er das Wort Pragmatismus erfunden hat, »den kantianischen aller Denker« blieb. Aber obwohl Rorty so vorsichtig ist, Peirce dem Randbereich jener Art von Pragmatismus zuzuordnen: die Dekonstruktion und Derrida rechnet er diesem voll zu. Und gerade Derrida beruft sich in seinen Schriften auf Peirce."
[Eco, Umberto: Die Grenzen der Interpretation. München / Wien: Carl Hanser, 1992, S. 430‑432]
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"Dekonstruktion verbindet die Unabschließbarkeit der Prospektive mit der Uneinholbarkeit des Anfangs: Dekonstruierendes Schreiben bleibt ohne Abschluss, weil die Schrift, die es überschreibt, sich verflüchtigt, weil das Lesen, das ihm zugrunde liegt und das es neu zur Sprache bringt, nie zum ersten Grund, zum ursprünglichen Meinen und ersten Signifikat zurückfindet. So finden wir in Derridas Konzept der Dekonstruktion eine profilierte Version eines Geschichtsdenkens, das, ähnlich wie die Thesen Benjamins, einen radikalen Zukunftsbezug in einem vertieften Vergangenheitsbezug begründet. Es ist eine Begründung, die gegen das teleologische Entwicklungsmodell klassischer Geschichtsphilosophie die direkte Gegenfigur zeichnet. Gezeichnet ist eine Erinnerung, die gleichsam nicht in ihr selber ihren Abschluss finden, sondern erst im Ausgriff auf ihr Anderes, auf das Neue und Künftige, sich vollenden kann; und gezeichnet ist ein Ausgriff auf Zukunft, der sich nicht von einem Ersten her entfaltet, sondern erst aus der Subversion der Herkunft seine Richtung und Kraft erhält. Nicht was der Ursprung ist und als Keim enthält, begründet den Gang der Geschichte, sondern was fehlt und unterdrückt ist, ist der Impuls des historischen Gedenkens. Es ist ein Impuls, der nicht eine Entwicklung absichert, sondern einen Anspruch begründet und den Späteren, Nachgeborenen einen Pflicht auferlegt. In einem späteren Text spricht Derrida davon, dass Dekonstruktion im »Sinn für eine grenzenlose ... Verantwortung gegenüber dem Gedächtnis« und der Geschichte gründet, ja, dass Dekonstruktion, die das geschichtliche Gewordene in seinem Begründetsein rekonstruiert und seinem Anspruch in Kraft setzt, gewissermaßen an ihr selber die Instanz der Gerechtigkeit verkörpert. Sie tut dies im Gegensinn zu Hegels Motiv der Weltgeschichte als Weltgericht: Gerade nicht der faktische Verlauf, sondern dessen Auflösung und Neukonstellierung spricht das Urteil über die Dinge, ein Urteil, das den bloßen Machtspruch der Geschichte widerruft."
[Angehrn, Emil: "Die Unabgeschlossenheit des Vergangenen. Erinnerung, Wiederholung und Neubeginn bei Walter Benjamin und Jacques Derrida". In: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse, 51./2001-2, S. 60-61]
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«Auch die Lesekunst der "Dekonstruktion", diensthabende Satthalterin der radikalen Kritik, konnte sich auf der Bühne nur halten, indem sie deutlich von den Mythen des Untergrunds Abstand nahm. Sie denkt nicht daran, in die unmöglichen Tiefen der Texte und Institutionen hinabzusteigen, um Sprengstoffe an den "Fundamenten" anzubringen. Behutsam weist sie auf die Labilität und Mehrdeutigkeit der scheinbar solidesten Gefüge hin; sie zeigt die Unschärfe der vorgeblich härtesten binären Gegensätze auf; sie macht die verborgenen Selbstwidersprüche der kohärentesten Diskurse manifest. Als eine neue Version der Traumdeutung an Texten jeder Art, insbesondere denen der alteuropäischen Metaphysik, ist sie, obschon ihre Adepten oft das Gegenteil behaupten, eine nachgerüstete Version der Hermeneutik, die sich mit kritischen Apparat und großer Gebärde der Aufgabe widmet, vorläufig alles zu lassen, wie es ist. Von diesem Befund aus lässt sich im Übrigen die verhüllte Komplizenschaft zwischen dem Dekonstruktionismus und der amerikanischen Massenkultur begreifen: Auch die letztere ist der Mission verpflichtet, das "Bestehende" nicht anzutasten. Ihr Mittel hierzu ist die unaufhörliche Beschwörung des Traums von einer schlechteren Welt, neben der die vorhandene wie die verwirklichte Utopie erscheint, würdig, mit allen Mitteln verteidigt zu werden.»
[Sloterdijk, Peter: Zorn und Zeit. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2006, S. 291 f.]
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«Am Beispiel von Hegels Satz "Gott ist Gott", der die Tautologie des Herrensignifikanten wiederholt, sehen wir, dass Gott auf einer ersten Ebene Prädikate zugeschrieben werden, während auf einer zweiten Ebene erkennbar wird, dass er genau die Eigenschaften selbst aufweist (allerdings nur in Form ihrer Abwesenheit oder ihres Gegenteils). Žižek zitiert Hegel mit den Worten: "Solches identische Reden widerspricht sich also selbst. Die Identität, statt an ihr die Wahrheit und absolute Wahrheit zu sein, ist daher vielmehr das Gegenteil; statt das unbewegte Einfache zu sein, ist sie das Hinausgehen über sich in die Auflösung ihrer selbst." (Denn Sie wissen nicht, was Sie tun, Wien: Passagen, 1994, S. 47)
Und für Žižek unterscheidet sich Hegel genau dadurch von Derrida – dieses Argument steht im Kontext von Žižeks Kritik an der Dekonstruktion. Nur durch den Selbstwiderspruch, in den sich jede Identitätsbehauptung verstrickt, lassen sich die Grenzen der Identität fassbar machen, nicht aber durch die Behauptung der Unmöglichkeit oder des Aufschubs von Identität. Žižek formuliert folgendermaßen: "Derrida variiert unablässig das Motiv, demzufolge die Selbstidentität unmöglich sei, wie sie immer konstitutiv, aufgeschoben, gespalten sei [...] Ihm entgeht jedoch die Hegelianische Inversion der Identität qua unmögliche zur Identität selbst als ein Name für eine gewisse Unmöglichkeit." (a.a.O., 48 f.)»
[Butler, Rex: Slavoj Žižek. Hamburg: Junius Verlag, 2006, S. 105]
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«Hay el libro, hay la revista, hay el periódico. Hay el libro que es la obra misma, desprendida y ajena ya a su autor, encerrada en sí, pequeño astro de irrealidad, flotando a merced de gravitaciones trascendentales. El autor al publicar su obra tiene la impresión de que ha enajenado un trozo de sí mismo, que ya no le pertenece. [...] ¡Cuántas veces una palabra sobre el libro que no está en el libro enciende dentro de éste, a nuestros ojos asombrados, inesperadas iluminaciones!
Pero verdaderamente un libro, aun el más perfecto, es siempre una abstracción, un fragmento. La mitad de él quedó en la placenta maternal, donde se ha nutrido, en el secreto ambiente de ideas, preferencias, postulados, datos que fueron su atmósfera de germinación. Sólo el autor y el grupo en que vive conocen ese secreto, que es la clave decisiva del libro. Los otros lo ignoran. Si son sinceros advierten que tienen en la mano un jeroglífico; si son perspicaces, ven las esquinelas de la fractura y buscan el otro pedazo.
Como todo lo esencial, padece la literatura una contradicción inexorable. Porque no tiene duda que la literatura es, a la postre, el libro; en él culmina; en él fructifica y, como los frutales, de él recibe el nombre. Mas, por otra parte, el libro es sólo un momento de la fluencia intelectual que en él se detiene, cristaliza y congela. Hay en todo libro algo de falsificación de la vida intelectual efectiva – una falsificación del mismo orden que la ejecutada en el movimiento por la fotografía instantánea. Así se explica que formidables escritores, el primero Platón, hayan sentido horror al libro, venteando en él algo de la rigidez cadavérica – pensamiento de pronto paralizado, gesto que se ha quedado perlático como Don Bartolo en el final del "Barbero" al golpe súbito sobre el suelo de las culatas de los fusiles. La instantánea deja a la ola defraudada en su afán de ondulación y la castiga por siempre a eréctil espasmo.
Para corregir en aproximación ese defecto congénito del libro debía servir la revista.»
[Ortega y Gasset, J.: "Sobre un periódico de las letras" (1924). En: Obras Completas, vol. III, p. 446-447]
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