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INVENTIO Invención (comp.) Justo Fernández López Diccionario de lingüística español y alemán
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Vgl.: |
Rhetorik |
„Inventio (griech. heúresis, lat. inventio, dt. Findungslehre, Invention, engl. invention, frz. invention, ital. invenzione)
A. Def. - B. Verwendungsbereiche: I. Rhet. - II. Phil. - III. Poetik. - IV. Jurisprudenz. - V. Musik/Malerei. - C. Gesch.: I. Antike. - II. MA. - III. Renaissance und Barock. - IV. Aufklärung. - V. 20 Jh.
A. Unter I. versteht man in erster Linie die Lehre von der Findung plausibler Argumente im Rahmen der klassischen Rhetorik. Darüber hinaus wurde I. bereits in der Antike allgemeiner als Terminus für die Findung von Stoffen und Inhalten in allen Teilen der Rede verwendet. Die I. wurde als Lehre von der Argumentfindung seit der Antike auch in der Philosophie (Topik, Dialektik) und der Jurisprudenz tradiert. Ab dem MA wurde I. noch allgemeiner als Lehre von der Stofffindung auf weitere, auch nicht-argumentative Textgattungen angewendet, z.B. in der Poetik. Schließlich wurde der I.-Begriff in der Renaissance- und Barockzeit auch auf den Bereich musikalischer Erfindung sowie auf die Malerei übertragen.
B.I. In der klassischen Rhetorik wird die I. als Lehre von der Auffindung wahrer oder zumindest wahrscheinlicher Argumente entwickelt. Sie umfasst den ersten Aufgabenbereich der Rhetorik, dem die Anordnung der Argumente (dispositio), ihre Ausformulierung (elocutio), Einprägung (memoria) und schließlich der Vortrag (actio) folgen. Die Auffindung erfolgt mittels geeigneter Suchformeln (topoi /loci), die es ermöglichen, aus der enormen Fülle aller denkbaren Argumente die inhaltlich relevanten auszuwählen. Die erste systematische Darstellung solcher Suchformeln wurde von ARISTOTELES in seiner Topik und Rhetorik entwickelt. In der römischen Rhetorik wurden die zahlreichen aristotelischen Topoi zu kompakten Katalogen mit etwa 20 bis 30 loci zusammengefasst.
Daneben wurde eine zweite Technik der I. tradiert, die mit der Lehre von den loci kombiniert wurde: es handelt sich um die Statuslehre, die auf HERMAGORAS von Temnos zurückgeht. Sie erschließt den Zugang zu plausiblen Argumenten über eine Klassifikation möglicher Streitfälle vor Gericht (so genannter status bzw. constitutiones). Für jeden status werden mithilfe einschlägiger loci passende Argumente gesucht.
Eine mit der antiken Statuslehre vergleichbare Technik wurde in der modernen Tradition der akademischen Debatte entwickelt (die so genannten stock issues). Dazu kommen in der zeitgenössischen Rhetorik verschiedene Varianten der spontanen oder strukturierten Ideenfindung in der Gruppe (brainstorming u.ä.).
Als Voraussetzung für die I. wird seit der Antike die Notwendigkeit umfassender Sachkenntnis betont. Als persönliche Voraussetzungen des Redners werden weiters gefordert: Phantasie und Einbildungskraft (ingenium), die Fähigkeit zur kritischen Beurteilung der gefundenen Argumente (iudicium) und das Vermögen, solche Argumente auszuwählen, die in bezug auf den jeweiligen Redezusammenhang angemessen (aptum) sind.
Die I. bezieht sich in der klassischen Rhetorik in erster Linie auf den argumentativen Teil (argumentatio) der Gerichtsrede. Daneben wurde schon in der Antike die I. auch auf die übrigen Redeteile (Einleitung/exordium, Darstellung des Sachverhalts/narratio, Redeschluss/peroratio) sowie auf die beiden anderen klassischen Redegattungen (Staatsrede, Festrede) bezogen. In Spätantike und MA kommen für die I. weitere (teilweise) argumentative Textgattungen (Predigt, Brief) hinzu.
II. In der Philosophie wurde die I. im Rahmen der Dialektik tradiert, d.h. der Lehre vom rational geführten philosophischen Streitgespräch, die von Aristoteles in seiner Topik konzipiert worden ist. Wie in der rhetorischen I. sollen die dialektischen topoi/loci den Dialogpartnern die Auswahl plausibler und relevanter Argumente ermöglichen und zugleich als inhaltliche Schlussregeln deren Beweiskraft garantieren. Die philosophisch-dialektischen topoi/loci werden allerdings weit abstrakter formuliert. Seit BOETHIUS und besonders in der mittelalterlichen Scholastik werden im Rahmen der Typologien argumentativer loci explizit Schlussregeln (‚Maximen’) angegeben. Eher am Rande dieser Tradition stehen Versuche von RAIMUNDUS LULLUS, eine rein mechanische Findungslehre zu entwickeln sowie vergleichbare kombinatorische Verfahren der jüdischen Mystik (Kabbala), die jedoch auf die Barockpoetik und -rhetorik sowie auf Denker wie LEIBNIZ stark nachwirkten.
In der frühen Neuzeit wird der Wert der Lehre von den loci für die Philosophie im Gefolge des Denkens von DESCARTES zunehmend in Frage gestellt, so dass sie trotz einzelner Rettungsversuche - etwa durch VICO - schließlich im 18. und 19. Jh. nahezu aus der philosophischen Diskussion verschwindet. Im Rahmen der allgemeinen Renaissance der Rhetorik im 20. Jh. ist jedoch auch die klassische I. in der Philosophie wieder zu neuen Ehren gekommen, besonders in der Neuen Rhetorik von PERELMAN.
III. Die klassischen dichtungstheoretischen Abhandlungen der Antike, die Poetik des Aristoteles und die Ars poetica des HORAZ, enthalten keine systematischen Kataloge von loci zur Auffindung von Stoffen. Jedoch ergeben sich einige mehr oder weniger direkte Anknüpfungspunkte an die rhetorische I. So wird gefordert, dass der Dichter gute Sachkenntnis besitzen und mögliche oder sogar wahrscheinliche Handlungen erfinden sollte und dass die Inhalte zu den jeweiligen Personen und Situationen passen sollen. Für bestimmte Inhalte wie Beweise und Widerlegungen in Reden, Charaktere der handelnden Personen sowie die Erregung von Emotionen verweist Aristoteles auf entsprechende Darstellungen in seiner Rhetorik.
In den poetischen Abhandlungen des späten MA (Artes poetriae) wird die Suche nach den Stoffen jedoch in Anlehnung an die Suchformeln der Rhetorik entwickelt. Besonders in der Renaissance und in der Barockzeit werden die loci der rhetorischen I. systematisch als Mittel zur Stoffindung eingesetzt (z.B. bei SCALIGER). In der Aufklärung wird zunehmend Kritik an der klassischen Findungslehre geübt, an deren Stelle z.B. GOTTSCHED einfach Sachkenntnis setzt. Schließlich wird im Zuge der Genie-Debatte des 18. Jh. jede Stoffindung, die an (aristotelischen) Regeln orientiert ist, scharf kritisiert und die geniale Schöpfernatur des Dichters dem ‚toten’ Regelwerk der Poetik entgegengesetzt.
IV. Durch die starke Betonung der Gerichtsrede im System der antiken Rhetorik war auch die I. stark auf die Findung von Argumenten im Kontext von Prozessen ausgerichtet. So ist die Statuslehre im Wesentlichen auf Streitfälle forensischer Natur hin konzipiert worden. CICERO gibt für seine argumentativen loci in den ‚Topica’ fast durchwegs juristische Beispiele. Im späten MA war die juristische Tradition des mos italicus lebendig, die sich stark an der rhetorischen I. ausrichtete. In unserer Zeit ist die rhetorische Topik für die Jurisprudenz vor allem durch VIEHWEG und Perelman wiederbelebt worden.
V. Durch die starke rhetorische Prägung der Renaissance- und Barockkultur wurde die I. in dieser Zeit auch auf das Finden von Motiven und Themen in der Musik und auf die Findung von Bildinhalten in Malerei übertragen. Auch ein spezifisches Musikstück ist mit dem Namen ‚Invention’ belegt worden.
C.I. Antike. Der Terminus I. wird zuerst von Cicero in seinem Jugendwerk ‚De inventione’ verwendet und wie folgt definiert: „Inventio est excogitatio rerum verarum aut veri similium, qui causam probabilem reddant“ (Die Findungskunst besteht in der Ersinnung von wahren oder wahrscheinlichen Inhalten, die den eigenen Standpunkt plausibel machen). Wörtlich identisch wird I. auch in der etwa zur gleichen Zeit verfassten ‚Ars rhetorica ad Herennium’ definiert [1] Die Argumentfindung wurde jedoch bereits von Aristoteles in seiner Topik umfassend erörtert, wo er eine Technik des philosophischen Argumentierens (die Dialektik) entwickelt. Er behandelt sie auch in seiner Rhetorik, wo er die Topoi als zentralen Bestandteil in die Findungslehre (e{uresi“, heúresis) einbaut. Während er in der Topik einen umfassenden Katalog von 300-400 tovpoi (Topoi, d.h. ‚Orten’, an denen Argumente gefunden werden können) bietet, führt er in der Rhetorik nur eine knappe und wenig systematische Liste von 28 Topoi an. Die von Aristoteles leider nie präzis definierten Topoi können mit De Pater zweifach verstanden werden: als Suchformeln, die den Blick auf relevante Argumente lenken sollen, und als Beweisformeln, die den Übergang von Argument zu Konklusion garantieren bzw. rechtfertigen sollen.
So verweist z.B. ein Topos als Suchformel auf verschiedene Arten von quantitativer und qualitativer ‚Gleichheit’ von Gegenständen und Sachverhalten; derselbe Topos garantiert als Beweisformel:
„Von gleichen Dingen können die dieselben Prädikate zutreffend ausgesagt werden“. [2]
Die Topoi ermöglichen, aus den e[ndoxa (éndoxa), d.h. den zahlreichen Sachverhalten und Werten, die in einer Gemeinschaft von allen oder den meisten als wahr, wahrscheinlich oder richtig akzeptiert sind, diejenigen auszuwählen, die im jeweiligen Zusammenhang inhaltlich relevant sind. Dafür müssen in einer ersten Arbeitsphase Listen von Endoxa zusammengestellt werden. Die rhetorischen Topoi sind meist konkreter und situationsbezogener formuliert als die dialektischen Topoi. Beiden ist jedoch gemeinsam, dass sie helfen, Argumente über jeden denkbaren Gegenstand zu finden, da Topik und Rhetorik allen Einzeldisziplinen vorgelagert sind.
Eine zweite Tradition der antiken I. geht auf Hermagoras von Temnos (2. Jh.) zurück, der eine detaillierte Systematik von Streitfällen (stavsei“, stáseis) erstellte, hauptsächlich in Hinblick auf die Gerichtsrede. Im Rahmen dieser Systematik kann der Redner zuerst präzise aufschlüsseln, welche Streitfrage vorliegt, und mittels speziell für die jeweilige Frage geeigneter Topoi Argumente auswählen. [3]
In ‚De inventione’ orientiert sich Cicero mehr an der von Hermagoras entwickelten Lehre als an der abstrakteren aristotelischen Topik. So werden die möglichen Streitfälle u.a. in vier Großklassen eingeteilt:
1. constitutio coniecturalis (in dieser Situation ist strittig, ob überhaupt ein bestimmter Sachverhalt vorliegt, z.B.: Hat X seinen Feind Y getötet?
2. constitutio definitiva (in dieser Situation ist strittig, wie der Sachverhalt zu benennen ist, z.B.: Hat X einen Mord begangen (oder liegt Totschlag oder Notwehr vor)?
3. constitutio generalis (in dieser Situation ist strittig, wie der Sachverhalt zu bewerten ist, z.B.: Ist der Mord, den X begangen hat, besonders schwer zu bestrafen oder gibt es mildernde Umstände?
4. constitutio translativa (in dieser Situation ist strittig, ob das Gerichtsverfahren im vorliegenden Fall korrekt durchgeführt wird/worden ist, z.B.: Hat der Kläger den tatsächlich zuständigen Richter nach dem tatsächlich einschlägigen Gesetz angerufen?
In der ‚Ars rhetorica ad Herennium’ wird eine etwas andere, aber im wesentlichen parallele Einteilung derconstitutiones gegeben. [4]
In den ‚Topica’ führt Cicero auch die allgemeine Unterscheidung zwischen Streitfällen (quaestiones) an, die auf bestimmte Personen und Umstände eingegrenzt sind (definitum genus, causa), und solchen, die genereller, kontextunabhängiger Natur sind (infinitum genus, propositum). Diese Unterscheidung kritisiert er in ‚De oratore’ allerdings dahingehend, dass allen speziellen Fällen die allgemeinen implizit zugrunde liegen. [5]
Im Rahmen der einzelnen constitutiones zählt Cicero jeweils loci auf, die für die jeweilige Situation passend sind, z.B. für die erste constitutio personenbezogene und kausale loci, für die zweite Definitions-loci, für die dritte Gerechtigkeits-loci; für die vierte wird auf die Rechtsordnung sowie verschiedene loci der übrigen constitutiones verwiesen. Jeder constitutio werden darüber hinaus auch (jeweils für Ankläger und Verteidiger getrennt) loci communes zugeordnet, d.h. allgemeine Topoi, die jeweils auf viele Streitfälle übertragen werden können und die Wirkung der Argumentation steigern sollen (amplificatio) [6]. Ciceros loci communes in ‚De inventione’ sind jedoch viel situationsspezifischer als Aristoteles allgemeine Topoi, vgl. z.B. folgenden locus communis aus der constitutio definitiva :
„Locus autem communis in eius malitiam, qui non modo rerum, verum etiam verborum potestatem sibi adrogare conatus et faciat, quod velit, et id, quod fecerit, quo velit nomine appellet“ (Ein locus communis aber (richtet sich) gegen die Schlechtigkeit dessen (= des Angeklagten), der sich nicht nur die Verfügungsgewalt über die Sachen, sondern auch über die Wörter anzumaßen versucht und sowohl das tut, was er will, als auch das, was er getan hat, mit dem Namen versieht, den er will). [7]
Neben dieser in die Statuslehre eingebundenen Darstellung der I. findet sich in ‚De inventione’ jedoch auch ein Katalog argumentativer loci, der nicht nach Status geordnet ist. Darin werden die aufzufindenden Argumente detailliert nach den Größen aufgeschlüsselt, die den jeweiligen Sachverhalt konstituieren wie z.B. die beteiligten Personen und Sachen, Ort, Zeit, Anlass, Ursachen, Ziele, Hilfsmittel, Begleitumstände und Folgen. Diese Größen werden durch den späterhin klassischen Kanon von 7 Fragen aufgerufen: „quis, quid, ubi, quando, cur, quomodo, quibus adminiculis“ (wer, was, wo, wann, warum, wie, mit welchen Hilfsmitteln): [8]
I. Personenbezogene loci (in Auswahl):
1. nomen (Eigennamen)
2. natura (biologische und kulturelle Zugehörigkeit)
3. victus (Erziehung, Freunde, Beruf)
4. fortuna (soziale Schicht, Vermögen, Ruf, Kinder)
5. habitus (erworbene Fähigkeiten)
6. adfectio (körperliche und seelische Verfassung)
7. consilium (überlegte Entschlüsse)
8. facta (Taten)
9. casus (Erlebnisse)
10. orationes (Aussprüche, Reden)
II. Sachbezogene loci (in Auswahl):
1. locus (Ort. Schauplatz)
2. tempus (Zeitpunkt, Zeitabschnitt, Zeitdauer)
3. occasio (Gelegenheit, Anlass)
4. modus (Art der Durchführung)
5. facultas (Mittel der Durchführung)
6. maius (im Vergleich zum vorliegenden Sachverhalt Größeres)
7. minus (im Vergleich zum vorliegenden Sachverhalt Kleineres)
8. simile (Ähnliches)
9. contrarium (konträres Gegenteil)
10. genus (Gattung)
11. pars (Art)
12. eventus (Folge, Wirkung)
Trotz einzelner Inkonsistenzen ist dieser Katalog eine für die Redepraxis nützliche Zusammenstellung wichtiger Kriterien für die Auswahl von Inhalten, die für die Argumentation relevant sind. So erklärt sich auch seine enorme Nachwirkung in der europäischen Rhetorik.
In seinen Werken ‚De oratore’ und ‚Topica’ schließt Cicero enger an die aristotelische Topik an und liefert Typologien abstrakterer, allgemeinerer loci. Hier kritisiert er auch die situationsabhängige Behandlung der loci im Rahmen der Statuslehre der Schulrhetorik: [9]
„Atque isti quidem, qui docent, cum causas in plura genera secuerunt, singulis generibus argumentorum copiam suggerunt; quod etiam si ad instituendos adulescentulos magis aptum est, ut, simul ac posita causa est, habeant quo se referant, unde statim expedita possint argumenta depromere, tamen et tardi ingeni est rivulos consectari, fontis rerum non videre“ (Aber die Rhetoriklehrer teilen freilich, wenn sie die Streitfälle in mehrere Gattungen gegliedert haben, den einzelnen Gattungen eine Menge von Argumenten zu; wenn auch das für die Ausbildung der jungen Leute eher geeignet ist, damit sie sofort nach Festlegung des Status etwas haben, woran sie sich halten können und woher sie sogleich fertige Argumente holen können, ist es dennoch Zeichen eines trägen Geistes, Bächlein zu verfolgen, die Quellen der Inhalte aber nicht zu sehen).
Die „Quellen“ der argumentationsrelevanten Inhalte werden mit ähnlicher Metaphorik auch als „capita“ (Ursprünge), „signa“ bzw. „notae“ (Zeichen, Markierungen), „domicilia“ (Wohnstätten“) und schließlich mit der späterhin klassischen Definition als „sedes argumentorum“ (Wohnsitze der Argumente) bezeichnet: [10]
„Ut igitur earum rerum, quae absconditae sunt, demonstrato et notato loco facilis inventio est, sic, cum pervestigare argumentum aliquod volumus, locos nosse debemus; sic enim appellatae ab Aristotele sunt eae quasi sedes, e quibus argumenta promuntur“ (Wie also die Auffindung von verborgenen Dingen leicht ist, wenn ihr ‚Ort’ bezeichnet und kenntlich gemacht worden ist, so müssen wir, wenn wir irgendein Argument aufspüren wollen, die ‚Orte’ kennen. So nämlich sind von Aristoteles diese - gleichsam - Wohnsitze genannt worden, aus denen Argumente entnommen werden). [11]
Die von Cicero hier behandelten loci communes sind wirklich allgemeine Topoi, wenn er sie auch zum Unterschied von Aristoteles nur selten wie im folgenden Beispiel explizit formuliert (vgl. locus 18. im unten angeführten Katalog):
„Quod in re pari valeat, valeat in hac, quae par est“ (Was in einer gleichgearteten Angelegenheit gilt, soll auch in einer (anderen) Angelegenheit gelten, die gleichgeartet ist; freier übersetzt: Gleiche Fälle sollen gleich behandelt werden). Ein konkretes Beispiel für eine Argumentation nach diesem locus lautet: [12]
„Wenn es gleich lobenswert ist, Mitbürger durch Rechtsberatung einerseits und Hilfe (vor Gericht) andererseits zu unterstützen, müssen jene, die beraten, und jene, die verteidigen, gleichen Ruhm ernten. Das Erste aber ist der Fall. Daher ist auch der Fall, was folgt“.
In den ‚Topica’ gibt Cicero folgenden Katalog von 19 loci, der wie die Typologie in ‚De inventione’ eine enorme Nachwirkung hatte: [13]
I. Sachimmanente loci)
1. definitio (Definition)
2. partitio (Einteilung)
3. notatio (Bezeichnung)
4. coniugata (durch Wortbildung Verknüpftes)
5. genera (Gattungen)
6. formae (Arten)
7. similitudo (Ähnlichkeit)
8. differentia (Verschiedenheit)
9. contrarium (Gegensatz)
10. adiuncta (durch die Umstände Angeschlossenes)
11. antecedentia (Prämissen)
12. consequentia (Konklusionen)
13. repugnantia (Widersprüche)
14. causae (Ursachen)
15. effecta (Wirkungen)
16. comparatio maiorum (Vergleich vom Größeren ausgehend)
17. comparatio minorum (Vergleich vom Kleineren ausgehend)
18. comparatio parium (Vergleich von gleichgearteten Größen)
II. Extrinsische loci
19. auctoritas (Autorität)
Nicht alle loci sind für alle Redekontexte in gleicher Weise geeignet. Es muss also eine zur jeweiligen Redesituation passende Auswahl getroffen werden. Sodann müssen die mithilfe der loci gefundenen Argumente kritisch bewertet, die schwächeren ausgeschieden und die plausiblen je nach ihrer relativen Stärke und Wichtigkeit für den Streitfall einer Beurteilung unterzogen werden, die Klugheit und Urteilskraft (prudentia, iudicium) erfordert. Auch allgemein teilt Cicero das Gebiet der Logik (ratio disserendi) in zwei Bereiche: Findung und Beurteilung („omnis ratio diligens disserendi duas habeat partis, unam inveniendi alteram iudicandi“). [14]
Die Nähe zu Aristoteles zeigt sich in ‚De oratore’ auch daran, dass Cicero loci behandelt, die mit den Emotionen zu tun haben, d.h. der positiven Selbstdarstellung des Redners (Ethos) und dem Erregen von heftigen Gefühlen im Auditorium (Pathos). Auch diese Techniken werden nämlich von Aristoteles neben den Sachargumenten (Logos) zu den Beweismitteln (Pisteis) gezählt. [15]
In ‚De oratore’ erörtert Cicero auch allgemeine Voraussetzungen für die I. Dazu gehören Redebegabung und Einbildungskraft (ingenium), Scharfsinn (acumen), geistige Beweglichkeit und Fleiß, aber auch die Kenntnis der oben geschilderten Findungsmethoden (ratio, ars). [16] Darüberhinaus fordert Cicero für den idealen Redner umfassende Sachkenntnisse, besonders auf dem Gebiet der Politik, der Geschichte, der Philosophie, der Anthropologie und des bürgerlichen Rechts. [17] Auf dieser Grundlage kann er auch betonen, dass kein Gegensatz, sondern im Gegenteil ein unzertrennlicher Zusammenhang zwischen zwischen Sachkenntnis und Redekunst („res“ und „verba“) bestehe. Cicero betont weiter, dass eine Fülle von Sachkenntnissen gerade eine Fülle von passenden Formulierungen hervorbringe („rerum enim copia verborum copiam gignit“). Zu diesen Ausführungen passen der gleichartige Ratschlag des älteren Cato: „Rem tene, verba sequentur“ (Behalte die Sache im Auge, die Worte werden folgen) und ähnliche Hinweise von Horaz in der ‚Ars poetica’: „rem tibi Socraticae poterunt ostendere chartae verbaque provisam rem non invita sequentur.“
(Den Stoff werden dir sokratische Schriften zeigen können, und die Wörter werden dem wohlbedachten Inhalt bereitwillig folgen). [18]
Schon bei Cicero wird die I. nicht nur auf die Argumentfindung beschränkt. So werden auch für die nicht spezifisch argumentativen Redeteile loci zur Stoffindung formuliert. Cicero gibt vier loci zur Gewinnung des Wohlwollens (benivolentia) der Hörerschaft im Rahmen der Rederöffnung (exordium) an; sie beruhen auf dem bescheidenen, integren Auftreten des Redners, dem Herausstreichen negativer Eigenschaften der Gegner, der Betonung positiver Eigenschaften der Zuhörer sowie der Aufwertung der eigenen Sache . [19]
Es werden aber auch für die Redeformulierung (elocutio) Bezüge zur I. hergestellt. So wird gesagt, dass die Formulierung passend zu den gefundenen Sachinhalten sein soll und es werden loci communes angegeben, die den Redeinhalt steigern (amplificatio) und Redeschmuck erschließen sollen (loci de ornatu). [20]
Diese Weite und Unschärfe des locus-Begriffs hat dazu geführt, dass in der Folge die I. allgemein als Lehre von der Findung von beliebigen Inhalten verstanden wurde und Topos/locus schließlich Bezeichnungen für die gefundenen Inhalte selbst wurden (‚Gemeinplatz’, ‚Klischee’, ‚Stereotyp’, ‚inhaltliches Motiv’). [21]
Nach Cicero setzt eine überwiegend rezeptiv-reproduktive Tradition der I. ein. Die bedeutendste Gesamtdarstellung der Rhetorik stammt von QUINTILIAN (40-96 n.Chr.). Wie Cicero in ‚De oratore’ vertritt Quintilian prinzipiell einen allgemein-aristotelischen Toposbegriff, der nicht auf spezielle Inhalte und Kontexte eingeschränkt ist. Es finden sich jedoch auch bei ihm Passagen, wo loci communes als kontextspezifische stereotype Formulierungen aufgefaßt werden. [22] Wichtig sind Überlegungen Quintilians zum Nutzen der loci-Lehre in der I. Er betont zu Recht, dass auch eine sehr genaue Kenntnis der loci-Kataloge sinnlos wäre, wenn man nicht zugleich über die Fähigkeit verfügt, sie den Umständen entsprechend in Argumentationen blitzschnell einzusetzen. Diese Fähigkeit muss durch Übung und Erfahrung erworben werden. Hinsichtlich der Beurteilung des Gefundenen betont Quintilian, dass sie nicht von der I. und anderen Bereichen der Rhetorik zu trennen sei. [23]
Quintilian bietet neben einer modifizierten Darstellung der Statuslehre auch eine komplexe Typologie von loci, in der er allerdings Ciceros Kataloge in ‚De inventione’ und ‚De oratore’/’Topica’ einfach aneinanderreiht, wodurch sich einige Inkonsistenzen ergeben. [24]
Nach Quintilian wird in Spätantike und frühem MA die I. fast ausschließlich reproduktiv behandelt, etwa bei den Rhetorikern IULIUS VICTOR und FORTUNATIAN (4. Jh.), bei den spätantiken bzw. frühmittelalterlichen Enzyklopädisten MARTIANUS CAPELLA (5. Jh.), CASSIODOR (485-580) und ISIDOR VON SEVILLA (560-636) und noch bei ALKUIN (730-804). Unterschiede bestehen lediglich in der mehr oder weniger starken Ausrichtung der I. an der Statuslehre und kleineren Unterschieden in der Klassifikation der loci, wobei meist nicht ganz geglückte Fusionen von Ciceros Typologien in ‚De inventione’ und ‚Topica’ vorliegen. [25]
AUGUSTINUS (354-430) und SULPICIUS VICTOR (4. Jh.) setzen in ihren Traktaten zur Rhetorik das Erkennen des Status (intellectio) terminologisch von der I. im engeren Sinn ab. Weit wichtiger wurde Augustinus für das MA durch seine theoretische Begründung der christlichen Predigttheorie in ‚De doctrina christiana’. Er tritt für die Integration der Rhetorik in das christliche Lehrgebäude ein und unterscheidet zwischen dem Verfahren, aus der Bibel Stoffe für die Predigt zu finden („modus inveniendi“), und der Technik der Darstellung („modus proferendi“). [26]
Über die ciceronianische Tradition hinaus geht auch BOETHIUS (480-525), dessen Abhandlung ‚De differentiis topicis’ für die weitere philosophische Tradition der I. im MA von entscheidender Bedeutung wurde. Boethius gliedert ähnlich wie Cicero die Logik in zwei Teile: Findung und Beurteilung des Gefundenen („Omnis ratio disserendi...in duas distribuitur partes, unam inveniendi, alteram iudicandi“). Er unterscheidet bei seiner locus-Definition deutlich zwischen der klassischen Charakteristik der loci als Wohnsitz für Argumente und ihrer Beschreibung als inhaltliche Beweisformel oder Schlußregel („Maxima propositio“: ‚größte (= allgemeinste) Proposition’, davon der Ausdruck ‚Maxime’). Diese Maximen haben den abstrakten Status der aristotelischen allgemeinen Topoi und weisen einen hohen Evidenzgrad auf [27]
Boethius führt explizit 26 Maximen an, darunter z.B.: „Si de aequalibus aequalia demas, quae derelinquuntur aequalia sunt“. (Wenn man von gleichen Dingen Gleiches wegnimmt, sind die Dinge, die übrigbleiben, (auch) gleich). Damit schließt er an den hohen Explizitheitsgrad der aristotelischen Topik an. [28] Die Maximen werden im Anschluß an den griechischen Rhetoriker Themistios zu einer Typologie von 20 Klassen von loci (die als loci differentiae bezeichnet werden) zusammengefaßt. Diese Typologie gleicht trotz einzelner Unterschiede im wesentlichen der Typologie Ciceros in den ‚Topica’ und ist nach Boethius auch mit dieser kompatibel. [29]
Boethius trennt klar zwischen dialektischen und rhetorischen Topoi (loci dialectici/rhetorici). Letztere sind konkreter und situationsspezifischer formulierte Anwendungsformen der allgemeinen dialektischen loci. Damit kommt er auch über die problematischen Versuche römischer Rhetoriker hinaus, Ciceros Typologien in ‚De inventione’ und ‚De oratore’ und den ‚Topica’ zu fusionieren. [30]. Boethius’ Darstellung blieb nahezu für das gesamte MA verbindlich und wurde sehr oft kommentiert.
Anmerkungen:
1 vgl. Cic. De inv.1,9; in: W. Friedrich (Hg.): Cicero, De inventione (1884); Auct. ad Her. 1,3; in: G. Calboli (ed.): Rhetorica ad C. Herennium (Bologna 1969). –
2. vgl. Arist., H 2, Topica 152b 25-29; W.A. de Pater: Les topiques d’Aristote et la dialectique Platonicienne (Fribourg 1965) 147f.; ähnlich J. Sprute: Die Enthymemtheorie der aristotelischen Rhet. (1982) 160; N.J. Green-Pedersen: The Trad. of the Topics in the Middle Ages (1984) 21; kritisch dagegen L. Bornscheuer: Topik (1976) 42; E. Eggs: Die Rhetorik des Aristoteles (1984) 406ff. –
3. vgl. L. Calboli-Montefusco: La dottrina degli „status“ nella retorica greca e romana (Bologna 1984); A. Braet: De klassieke statusleer in modern perspectief (Groningen 1984). –
4. Cic. De inv. 1,10; Auct.ad Her. 1,18-25. –
5. Cic. Topica. 79; in: K. Bayer (Hg.): Topica (1993); Cic. De or. 2, 133ff.; in: H. Merklin (Hg.): Cicero, De oratore (1976).-
6. Cic. De inv. 2, 48. –
7. Cic. De inv. 2, 55. –
8. Cic. De inv. 1, 34-1, 43. –
9. Cic. De or. 2, 117. –
10. Cic. De or. 2, 146; 2, 162; 2, 174. –
11. Cic. Topica, 8; De or. 2, 162. –
12. Cic. Topica, 23; 71. –
13. Cic. Topica 8-24; De or. 2, 163-2, 173; vgl. allgemein B Riposati: Studi sui ‚Topica’ di Cicerone (Milano 1947); A.D. Leeman/H. Pinkster: Kommentar zu M. Tullius Cicero, De oratore libri III (1981ff.). –
14. Cic. De or.2, 308.; Topica, 6 –
15. Cic. De or. 2, 178. –
16. Cic. De or. 1, 113; 2, 147. –
17. Cic. De or. 1, 45ff. –
18. Cic. De or. 3, 19; 3, 125; 3, 142; Horaz, De arte poetica 310f.; in: H. Färber (Hg.): Horaz, Sämtliche Werke (1967). –
19. Cic. De inv. 1, 22. –
20. Cic. De inv. 1, 9; 2, 48; De or. 3, 104. –
21. Vgl. Bornscheuer [2] 66f.; J.A.R. Kemper: Topik in der antiken rhet. Techne, in: D. Breuer/H. Schanze (Hg.): Topik (1981) 17-32; 25ff. –
22. Quint. 5, 10, 20; 2, 4, 22; 5, 1, 3; 5, 7, 4; 5, 13, 57; in: H. Rahn (Hg.): Quintilian, Institutio oratoria/Ausbildung des Redners (1972/1975); J. Kopperschmidt: Quintilian De argumentis, in: Rhetorik 2 (1981) 59-74. –
23. Quint. 5, 10, 100ff., 10, 123; 3, 3, 5. –
24. Quint. 5, 9,1ff.; vgl. J. Cousin: Études sur Quintilien (Paris 1936) 269. –
25. vgl. Iulius Victor, Ars rhet.1, in: R Giomini/M.S. Celentano (ed.) (1980); Fortunatianus, Ars rhet.1,1, in: L. Calboli-Montefusco (ed.) (Bologna 1979); Martianus Capella, De nuptiis Philologiae et Mercurii 5,442, in: J. Willis (ed.) (1983); Cassiodorus, Institutiones 2,2, in: R.A.B. Mynors (ed.) (Oxford 1961); Isidorus Hispalensis, Etymologiae 2,3,1, in: W.M. Lindsay (ed.) (Oxford 1911); Alcuinus, Disputatio de rhet.et de virtutibus 4, in: C. Halm (ed.) (1863) 523-550. –
26. Augustinus, De rhet.1, in: Halm (ed.) (1863) 137-151; Sulpicius Victor, Institutiones oratoriae 4., in: Halm (ed.) (1863) 313-352; Augustinus, De doctrina christiana 1,1,1, in: G.M. Green (ed.): Augustinus, De doctrina christiana libri quattuor (Wien 1963); J.J. Murphy: Saint Augustine and the Debate about a Christian Rhetoric, in: Quarterly Journal of Speech 46/4 (1960) 400-410. –
27. Boethius, 1173C; 1176C; 1185A; De differentiis topicis in: ML 1173ff. –
28. Boethius [27] 1176C.
29. Vgl. O. Bird: The Trad. of the Logical Topics: Aristotle to Ockham, in: Journal of the History of Ideas 23.3. (1962) 307-323; 311f.; E. Stump: Boethius’s De Topicis Differentiis (Ithaca/London 1978) 196, und Green-Pedersen [2] 46ff. kommen auf 28 Klassen. –
30. Boethius [27] 1205C-D; 1216B-C.
II. Mittelalter. Die I. wird im MA auf eine Reihe von Disziplinen verteilt. Hier ist zuerst die Tradition der klassischen Rhetorik zu nennen. Die I. wird in diesem Rahmen vor allem im Anschluß an Ciceros Jugendschrift ‚De inventione’ und die im MA fälschlich als ‚zweite Rhetorik’ Ciceros bezeichnete ‚Ars rhetorica ad Herennium’ behandelt. Diese beiden Werke wurden häufig übersetzt und mit zahlreichen Kommentaren versehen. [1]
Neben der Fortwirkung der ciceronianischen Rhetorik entstanden im MA drei rhetorische Spezialdisziplinen: die Briefschreibkunst (Ars dictaminis), die Predigttheorie (Ars praedicandi) und die Dichtungstheorie (Ars poetria oder Ars versificatoria). [2] Von diesen drei Disziplinen weist die Briefschriebkunst (begründet 1087 von ALBERIC VON MONTE CASSINO mit seinen ‚Dictaminum radii’) die geringsten direkten Beziehungen zur klassischen I. auf. Dies hängt wohl damit zusammen, dass der Erfindungskraft in der Ars dictaminis nur ein geringer Spielraum gelassen wird. Es gab ein feststehendes Aufbauschema für Briefe: salutatio, captatio benevolentiae, narratio, petitio, conclusio (Gruß, Gewinnung des Wohlwollens, Erzählung, Appell, Schluß) sowie einen Katalog je nach Adressat passender Grußformeln, wobei später vorgefertigte Formeln auch für weitere Briefteile angegeben wurden (am stärksten schematisiert bei LORENZ VON AQUILEGIA in seiner Abhandlung ‚Practica sive usus dictaminis’, verfaßt ca. 1300). Daraus ergab sich eine Spannung zwischen der Absicht, aus praktischen Gründen möglichst viele Textbausteine fertig formuliert vorzugeben, und dem Prinzip freier Erfindung: „the art always faced the inherent dilemma of formalism versus invention“ [3] Am direktesten schließt die captatio beneloventiae an die Exordialtopik (= loci der Redeeinleitung) der ciceronianischen Rhetorik an, wenn etwa die Anweisung gegeben wird, den Adressaten für den folgenden Inhalt des Briefes zu interessieren und ihn wohlwollend zu stimmen.
Wesentlich direkter zeigt sich der Einfluss der klassischen I. bei den Traktaten zur Predigttheorie, die in großer Zahl (ca. 300 vom 13. bis zum 15. Jh.) erscheinen und in denen eine detaillierte Technik des Predigens entwickelt wird. Ein Unterschied zur klassischen I. zeigt sich in der entscheidenden Rolle der Hl. Schrift für die Stoffindung. So betont etwa THOMAS VON SALISBURY in seiner ‚Summa de arte praedicandi’ (Anfang des 13. Jh.), in der er I. im wesentlich wie Cicero in ‚De inventione’ definiert, dass die Bibel ihre eigenen ‚Orte’. hat, die über die rhetorischen und dialektischen loci hinausgehen („Sacra pagina habet locos suos speciales praeter locos dialecticos et rhetoricos“). [4] In den Artes praedicandi finden sich aber auch zahlreiche Elemente, die aus den klassischen loci-Katalogen vertraut sind, ohne dass sie in derselben Weise erörtert oder aufgezählt werden. Vielmehr werden sie in der Predigt als Mittel zum Ausbau (dilatatio), d.h. zur inhaltlichen Entfaltung und argumentativen Bearbeitung des Themas eingesetzt, das gewöhnlich ein Satz aus der Bibel ist. Eine vorrangige Rolle spielen dabei Autoritäten (weitere Bibelzitate oder Apostel, Kirchenväter, Heilige etc.). Es werden aber auch Beispiele, Definitionen, Vergleiche, Auflösung von Gegensätzen, Einteilung eines Ganzen in Teile, Ursachen und Wirkungen angeführt, etwa im Traktat ‚De modo praedicandi’ (ca. 1200) von ALEXANDER VON ASHBY, in der ‚Ars dilatandi sermones’ (ca. 1245) von RICHARD VON THETFORD, schließlich in der ‚Forma praedicandi’ (1332) von ROBERT VON BASEVORN. [5] So zeigt sich in den Abhandlungen zur Predigttheorie eine differenzierte Weiterentwicklung der klassischen I., die auch die traditionellen loci einsetzt. [6] Als völlig neues Element erscheint in den Artes praedicandi die im gesamten MA geläufige Technik der vierfachen Bibelauslegung (1. wörtlicher Sinn (expositio historica), 2. allegorischer Sinn (expositio allegorica), 3. tropologischer Sinn (moralisierende Ausdeutung, expositio moralis), 4. anagogischer Sinn (expositio anagogica, d.h. Deutung im Hinblick auf himmlische Vorgänge der Endzeit). Sie wird als Mittel der I. eingesetzt, indem das Predigtthema den vier Auslegungen entsprechend vierfach entfaltet wird. [7]
In den Dichtungstheorien, die Ende des 12. und bis Mitte des 13. Jh. entstanden, wird die klassische I. auf das Finden von Stoffen für Dichtungen angewendet. Dabei werden situationsbezogene loci-Kataloge wie in Ciceros ‚De inventione’ eingesetzt, um potentielle Inhaltsbereiche aufzugliedern und zu erschließen. So z.B. in der ‚Ars versificatoria’ (ca. 1175) des MATTHAEUS VON VENDÔME, wo 11 „attributa personae“ und 9 „attributa negotionis“ (= Ciceros personen- und sachbezogene loci) unterschieden werden, z.B. Name, Herkunft, Alter, Vermögen bzw. Ursachen, Umstände, Ort, Zeit etc. Matthaeus v. Vendôme gibt auch einen hexametrischen Merkvers an, in dem 7 charakteristische Fragewörter aufgezählt werden. Dabei entspricht „quis“ (wer) den Personen-loci , die restlichen Fragepronomina den Sach-loci: „Quís, quid, ubí, quibus aúxiliís, cur, quómodo, quándo“ [8] In vergleichbarer Weise werden in der Abhandlung ‚De arte prosayca, metrica, et rithmica’ von JOHANNES VON GARLANDIA (ca. 1195-1272), der I. wie Cicero in ‚De inventione’ definiert, fünf Arten personen- und sachbezogener I. aufgezählt. Angesichts dieser Sachlage scheint mir das Urteil von Vickers, dass die I. in den Poetiken des MA praktisch verschwunden sei („Inventio in this context of literary creation has virtually disappeared“), etwas zu streng zu sein [9].
Eine weitere Traditionslinie der I. im MA ist im Rahmen der scholastischen Logik und Dialektik anzusiedeln. Hier werden die dialektischen loci vor allem im Anschluss an Boethius’ Werk ‚De differentiis topicis’ erörtert. Die von Boethius unterschiedenen ca. 20 loci-Klassen bleiben die Grundlage für alle Klassifikationen bis ins späte MA. Unterschiede zur Antike zeigen in der schärferen Trennung von rein formallogischer Gültigkeit von Schlüssen einerseits und ihrer durch loci gewährleisteten inhaltlichen Plausibilität andererseits. Diese Unterscheidung wird vor allem durch ABAELARD (1079-1142) und WILHELM VON OCKHAM (1290-1350) klar herausgearbeitet. [10]
Die Zahl der explizit formulierten Maximen wird im Vergleich zu Boethius bedeutend erhöht, und sie werden auch abstrakter und präziser formuliert; so unterscheiden z.B. Abaelard und PETRUS HISPANUS (1210-1277), der ansonsten direkter an Boethius anknüpft, etwa 80 Maximen. [11]
Ab dem 12. Jh. wird auch auf die aristotelische Topik, die jetzt durch lateinische Übersetzungen zugänglich wird, direkt zurückgegriffen. Sie wird z.B. von JOHANNES VON SALISBURY (1110-1180) diskutiert, der die Topik bzw. Dialektik als ein den Einzeldisziplinen vorgelagertes Fundament an den Beginn des wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses stellt: sie ermögliche es, in Verbindung mit profundem Wissen in den einzelnen Disziplinen über beliebige Themen plausible Ansichten zu gewinnen und in der Diskussion zu vertreten („ut minimum ei (= dialectice) ascribam, sufficit de omnibus probabiliter disputare“). [12] Um die Vermittlung und Interpretation der aristotelischen Topik machen sich auch arabische Kommentatoren verdient, z.B. AVERROES (1126-1198) [13]
Gegen Ende des MA beginnt eine allmähliche Ablösung von der aristotelisch-scholastischen Tradition. R. AGRICOLA (1443-1485) kritisiert den mangelnden Praxisbezug der scholastischen Dialektik und gibt einen eher an Ciceros ‚De inventione’ orientierten Katalog argumentativer loci. Er hält die Formulierung expliziter, abstrakter Maximen für überflüssig. Seine loci communes sind stark kontextgebundene Prämissen von Schlüssen: „Loci communes freilich (wie sie die Redner nennen) sind nichts anderes als die Oberprämissen von Schlüssen: z.B. welche gegen Verräter, gegen Giftmischer, gegen Ehebrecher, Meuchelmörder vorgebracht werden“ [14] Agricola lehnt auch die Unterscheidung dialektischer und rhetorischer loci ab, da alle loci auf bestimmte Personen oder Sachen bezogen seien. Dies kann allerdings als theoretischer Rückschritt auf den Diskussionsstand vor Boethius, ja sogar vor Quintilian und Cicero (in ‚De oratore’!) angesehen werden, die alle einen abstrakten locus-Begriff verteidigt hatten. [15] Folgenschwer für die weitere Entwicklung war auch Agricolas Forderung, die I. ausschließlich in der Dialektik zu behandeln und aus dem Bereich der Rhetorik auszuklammern, die nur die nur den Redeschmuck zu behandeln habe. [16]
In das gleiche geistige Umfeld wie Agricola sind andere frühe Humanisten des ausgehenden MA einzuordnen, die mehr oder weniger vehement gegen die abstrakte Philosophie der Scholastik polemisieren. Dabei fordern sie, dass dem scholastischen Primat der res (Sachinhalte) die rhetorische Betonung der verba (Formulierungstechnik) vorzuziehen sei. Verbunden damit ist eine Kritik des nüchtern-dürftigen Stils der Scholastiker und die Forderung nach Eleganz des Ausdrucks. Damit gehen Humanisten wie L. VALLA, L. BRUNI und A. POLIZIANO noch über Ciceros vergleichbare Polemiken gegen die Philosophie hinaus. [17|
Neben der I. in den 5 bisher behandelten Traditionen des MA (1. klassische Rhetorik, 2. Briefschreibkunst, 3. Predigttheorie, 4. Dichtungstheorie, 5. Dialektik) werden weitere Findungslehren entwickelt, die aber der I. im bisher behandelten Sinn nur bedingt nahestehen: die ‚Ars magna’ des R. LULLUS (1235-1315) sowie die Kombinatorik der sogenannten ‚ekstatischen Kabbalah’ der jüdischen Mystik, die am weitesten von A. ABULAFIA (1240-ca. 1300) vorangetrieben wurde. Gemeinsam ist beiden Strömungen das Prinzip, ausgehend von einer relativ kleinen Menge von Grundelementen durch kombinatorische Operationen (Permutation und Substitution von Elementen) eine große Menge von Folgerungen abzuleiten.
Im Fall von Lullus handelt es sich bei den Grundelementen um 54 Begriffe, darunter Prinzipien wie Güte, Größe, Ewigkeit (bonitas, magnitudo, aeternitas); Subjekte wie Gott, Engel, Mensch (deus, angelus, homo) und Relationen wie Unterschied, Übereinstimmung, Gegensatz (differentia, concordantia, contrarietas), die in vier von Lullus entwickelten ‚Figuren’ zu einer Vielzahl von Aussagen und Folgerungen kombiniert werden können. Die I. wird im Rahmen dieses Systems als Form definiert, mit der der Intellekt den Findungsprozess vollzieht („Inventio est forma cum qua intellectus invenit inventum“). Lullus wollte damit eine universale Sprache, ein ‚Alphabet des Denkens’, schaffen, in der man sich auch mit den ‚Ungläubigen’ (Arabern, Juden) verständigen und sie bekehren könnte. Tatsächlich lässt er aber nur Begriffskombinationen und Ableitungen zu, die mit dem christlich-abendländischen Weltbild vereinbar sind. Die Grundprinzipien und Relationen werden entsprechend zu einem hierarchisch gegliederten ‚Baum des Wissens’ (Arbor scientiae) verzweigt, der die Wirklichkeit in ein umfassendes enzyklopädisches System einordnet. [18]
In der ‚Kabbalah der Namen’ werden die 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets als Grundelemente einer universalen Sprache angesehen, die die Wirklichkeit nicht nur abbildet, sondern auch hervorbringt. Permutationen der biblischen Bezeichnungen für Gott (das Tetragramm JHWH; Adonai, Elohim etc.) in Verbindung mit bestimmten Atemtechniken rufen ekstatische Wirkungen hervor und verhelfen nach Ansicht der Kabbalisten zu magischen Fähigkeiten. Die I. der Kabbalah ist also anders als Lullus’ enzyklopädische Kombinatorik ein genuines, wenn auch rational nur schwer zugängliches Entdeckungsverfahren. [19]
Sowohl Kabbalistik als auch Lullismus unterscheiden sich deutlich von der rhetorisch-topischen I., die immer auf spezifische Kontexte und Situationen angewendet werden muss, dabei auf Intuition und Fingerspitzengefühl angewiesen ist und daher für ihre erfolgreiche Durchführung keine rein mechanischen Prozeduren zulässt. Außerdem beansprucht die rhetorische I. für die zu findenden Inhalte im Normalfall bloße Wahrscheinlichkeit und nicht etwa axiomatische oder mystische Gewissheit.
Insofern steht die juristische Auslegungslehre des mos italicus, die in BARTOLUS (gest. 1357) ihren berühmtesten Vertreter fand, als juristischer Stil aber bis ins 16. Jh. vorherrschte, der rhetorischen Topik weit näher. Hier werden Kataloge rhetorischer loci (z.B. Vergleiche, Gegensätze, Genera, Spezies, kausale Beziehungen) zur Rechtsauslegung herangezogen. Die Rechtsprobleme werden kontext- und situationsspezifisch erörtert. [20]
1. Vgl. J.J. Murphy: Rhetoric in the Middle Ages (Berkeley 1974) 89ff.- 2. Murphy [1] 135ff. - 3. Murphy [1] 266; vgl. auch: H.B. Gerl: Rhetorik und Philosophie im Mittelalter, in: J. Kopperschmidt/H. Schanze (Hg.): Rhetorik und Philosophie (1989) 99-119; L. Rockinger: Briefsteller und Formelbücher des elften bis vierzehnten Jahrhunderts. 2 Bde (1863; Neudruck New York 1961). - 4. Murphy [1] 323. - 5. Vgl. Th.M. Charland: Artes praedicandi (Paris/Ottawa 1936) 23f.; 77ff.; 233ff.; Murphy [1] 315; 327; 347ff.- 6. H. Caplan: Rhetorical Invention in Some Mediaeval Tractates on Preaching, in: ders.: Of eloquence. Studies in Ancient and Mediaeval Rhetoric (Ithaca 1970) 85. 7. Robert von Basevorn, Forma praedicandi cap.39, in: Charland [5] 291ff. - 8. Vgl. Murphy [1] 164f.; E. Faral: Les arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècles (Paris 1958) 109-193; F. Munari (ed.): Matthaeus Vindocinensis, Ars versificatoria (Roma 1988) 128; D. Kelly: The Imitation of Models and the Uses of Argumenta in Topical Invention, in: Argumentation 1.4. (1987) 365-377. - 9. Vgl. Murphy [1] 177; T. Lawler (ed.): The Parisiana poetria of John of Garland (New Haven 1974);. B. Vickers: In defence of Rhetoric (Oxford 1988) 239; ähnlich: R. McKeon: Rhetoric in the Middle Ages, in: Speculum 17 (1942) 1-32, 29. - 10. Vgl. P. Abaelardus: Dialectica, 253ff.; 274 in: L.M. De Rijk (ed.)(Assen 1956); W.v. Ockham: Summa logicae 3,3,1 in: Ph. Boehner/G. Gál/St. Brown (eds.)(New York 1974) 587f.; J. Pinborg: Logik und Semantik im Mittelalter (1972) 71; 172ff.; N.J. Green-Pedersen: The Tradition of the Topics in the Middle Ages (1984) 198; 290; Green-Pedersen 266ff. äußert starke Bedenken gegen die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Ockham und der Topiktradition. -11. Vgl. P. Hispanus: Summulae logicales 5 in: L.M. De Rijk (ed.)(1972). - 12. Johannes Sarisburiensis, Metalogicon 2,9; 3,5ff.; in: J.B. Hall (ed.)(Turnhout 1991) 69; 118ff.; vgl. H.B. Gerl [2] 108ff. 13. E. Thionville: De la théorie des lieux communs dans les Topiques d’Aristote et les principales modifications qu’elle a subies jusqu’ à nos jours (1855; Neudr. 1965) 111. - 14. R. Agricola: De inventione dialectica (Paris 1554) 114v. 15. ebd. 136v. 16. ebd. 134v-r. -17. Vgl. C Vasoli: La dialettica e la retorica dell’Umanesimo. „Invenzione“ e „metodo“ nella cultura del XV e XVI secolo (Milano 1968); B. Vickers: Rhetorik und Philosophie in der Renaissance, in: H. Schanze/J. Kopperschmidt (Hg.): Rhetorik und Philosophie (1989) 121-157; E. Grassi: Rhetorischer Humanismus: Die Liebe zum Wort, Philologie, ibid. 159-168. - 18. Vgl. Raimundus Lullus: Ars magna et ultima, cap. 89, in: Opera ea quae ad inventam ab ipso artem universalem...perintent (Argentorati 1651) 218-663; 526; U. Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache (1994) 65ff.; N. Herold: Bild, Symbol und Analogie: die „Modelle“ des Nikolaus von Kues. In: H. Stachowiak (Hg.): Pragmatik. Handbuch des pragmatischen Denkens. Bd 1 (1986) 299-318, bes. 305 - 19. Eco [18] 42ff. -20. Vgl. Th. Viehweg: Topik und Jurisprudenz (1974) 67ff.; 78.
III. Renaissance und Barock. In der Renaissance wird die I. 1. im Rahmen der Wiederbelebung der antiken Rhetorik dargestellt, 2. in Poetiken im Rahmen der Kapitel zur Stoffindung behandelt und 3. in philosophischen Abhandlungen fortgeführt, die sich allerdings zunehmend von der aristotelisch-scholastischen Dialektik abwenden. Darüberhinaus werden 4. die mittelalterlichen Traditionen der Predigttheorie und der Briefschreibkunst fortgesetzt und schließlich übte die Renaissance-Rhetorik 5. auch auf Musik und Malerei eine starke Wirkung aus. Diese Glanzzeit der Rhetorik wird aber dadurch überschattet, dass speziell die I. allmählich aus dem Zentrum des Interesses zu verschwinden beginnt und die Behandlung der elocutio, d.h. stilistische Ausgestaltung und Redeschmuck in der Rhetorik zu dominieren beginnen. [1]
Trotzdem nimmt in vielen Renaissance- und Barock-Rhetoriken sowohl der protestantischen Reformation als auch der katholisch-jesuitischen Gegenreform die I. ihren seit der Antike angestammten Platz ein. So behandeln PH. MELANCHTHON (1497-1560), G.J. VOSSIUS (1577-1649) und C. SOAREZ (1524-1593) die I. ausführlich.
Melanchthon stellt die I. in seinen ‚Elementa rhetorices’ im Anschluss an Cicero und Quintilian dar. Er betont die enge Verwandtschaft von Rhetorik und Dialektik, weist aber der Dialektik die reine Faktendarstellung zu, zu der bei der Rhetorik als ihr eigentliches Wesensmerkmal die Einkleidung der Tatsachen durch die Formulierungstechniken kommen („dialectica res nudas proponit. Rhetorica vero addit elocutionem quasi vestitum“). [2] Melanchthon behandelt die I. eher kontext- und situationsspezifisch im Rahmen der 3 klassischen Redegattungen (Festrede, Staatsrede, Gerichtsrede), zu denen er als vierte die belehrende Rede bzw. Predigt (genus didaskalikovn bzw. didascalicum) fügt. Bei der Gerichtsrede wird auch die Statuslehre als Ordnungsrahmen benützt. Darüberhinaus unterscheidet er aber ganz im Sinne Ciceros in ‚De oratore’ die loci communes deutlich von den kontextspezifischen loci und betont, dass der Redner imstande sein müsse, einen speziellen Fall (hypothesis) auf einen allgemeinen Fall (thesis) zurückzuführen. Der Redner muss innerhalb jeder Disziplin die loci communes als allgemeinste Quellen und Prinzipien des Argumentierens kennen. Dieser Begriff von I. ist trotzdem weniger allgemein als bei Aristoteles, der die Topik allen Einzeldisziplinen vorgeordnet hat. [3] Melanchthon fordert wie Cicero eine gute Kenntnis der wichtigsten Einzeldisziplinen, betont aber zu Recht, dass die loci bei der I. nicht sosehr zur bloßen Findung des Stoffes, sondern vielmehr zur Auswahl inhaltlich relevanter Argumente dienen („loci inventionis...non tam conducunt ad inveniendam materiam, quam ad eligendam“). [4]
Vossius stellt in seiner ‚Rhetorice contracta’ den Unterschied zwischen Dialektik und Rhetorik stärker heraus, indem er festlegt, dass die Dialektik es nur mit sachlich belehrenden Argumenten (argumenta docentia ) zu tun habe, die Rhetorik auch mit solchen, die die Zustimmung durch gewinnende Präsentation des Redners und emotionale Bewegung des Auditoriums (argumenta conciliantia, permoventia). So wird auch die rhetorische I. als die Erfindung solcher Argumente definiert, die zur Überredung geeignet seien („Inventio est excogitatio argumentorum, quae ad persuadendum idonea sunt“). Des Weiteren hätten die Dialektik und die Rhetorik zwar die allgemeinen Topoi gemeinsam, nur die Rhetorik behandle aber kontextspezifische loci. [5]
Soarez behandelt in seinem Werk ‚De arte rhetorica’ die I. im Anschluss an Cicero: er zieht die ‚Topica’ heran, insbesondere was die Klassifikation der loci betrifft. Die I. wird wie in Ciceros ‚De inventione’ definiert. Wie Cicero in ‚De oratore’ betont Soarez, dass ein hervorragender Redner von Einzelfällen abstrahieren solle. Der Findung der Argumente folgt Auswahl und Bewertung (iudicium) der jeweils geeignetsten [6]
In dieser Tradition steht auch noch CHR. WEISE (1642-1708), einer der größten Rhetoriker des späten Barock, für dessen ‚Politischen Redner’ (1677) zwar die humanistische Rhetorik Basis bleibt, der allerdings in einer auf die Aufklärung vorausweisenden Art „humanistische Schuloratorie und höfisches Komplimentierwesen, bürgerliche Beredsamkeit und höfische Gelegenheitsrhetorik“ verbindet [7]
In der Philosophie der Renaissance- und Barockzeit wird die klassische Darstellung der I. teils aus dem Bereich der Rhetorik verwiesen, teils einer so vernichtenden Kritik unterzogen, dass die Topik-Tradition im 18. Jh. zum Erliegen kommt.
P. RAMUS (1515-1572) folgt in seinen ‚Dialecticae institutiones’ der Kritik Agricolas an der aristotelisch-scholastischen Tradition, die er in der ersten Auflage (1543) scharf aus platonischer Sicht kritisiert. In späteren Auflagen kombiniert er platonisches und aristotelisches Denken. Ramus vertritt die Auffassung, dass alle Menschen in allen Disziplinen derselben Methode des vernünftigen Schließens folgen, wodurch die aristotelische Unterscheidung zwischen dialektischen, bloß plausiblen Schlüssen und strengen logischen Beweisen entfällt. Die I. wird in modifizierter Form dargestellt, wobei eine neue Klassifikation der loci geboten wird. Wie Agricola verzichtet er auf die Angabe expliziter Maximen. Die gefundenen Argumente werden einer Kritik (iudicium) unterzogen, wobei aristotelische Syllogistik und platonische Dialektik als Hilfsmittel der Prüfung und methodischen Anordnung dienen. Die I. wird aus der Rhetorik verwiesen, da letztere nur mit der Darstellung des Redeschmucks befasst sei [8] Dies hatte zur Folge, dass eine Tradition von auf die Stilistik (elocutio) beschränkten Rhetoriken entstand. Schon Ramus’ Freund A. TALAEUS schrieb 1572 eine auf die Figurenlehre reduzierte Rhetorik. Eine Serie ähnlicher Rhetoriken folgte, z.B. die 1670 verfaßte ‚La rhétorique ou L’art de parler’ von B. LAMY, in der die Topik nur kurz und ziemlich geringschätzig behandelt wird. [9]
Im Anschluss an R. DESCARTES (1596-1650) betont A. ARNAULD (1612-1694) in seiner gemeinsam mit P. NICOLE verfassten Logik von Port-Royal, dass nur das mathematische Schließen auf der Grundlage notwendig wahrer Prämissen akzeptabel sei. Damit wird der klassischen I., die (zumeist) von bloß wahrscheinlichen Prämissen ausging, die Grundlage entzogen. Arnauld kritisiert darüber hinaus auch den Praxiswert der herkömmlichen I. vernichtend. Er bestreitet Ramus’ Ansicht, dass eine I.-Lehre dem Urteil (iudicium) der Logik vorangestellt werden müsse. Die loci seien für die I. vielmehr völlig nutzlos: kein Advokat, kein Prediger, kein Schriftsteller würde den Stoff mithilfe der loci finden. Das Finden der Argumente beruhe stattdessen auf Sachkenntnis, gesundem Menschenverstand und genauer Analyse des jeweiligen Gegenstandes. Mit den loci könnten allenfalls bereits gefundene Argumente klassifiziert werden („Il est vray que tous les argumens qu’on fait sur chaque sujet se peuvent rapporter à ces chefs & à ces termes generaux qu’on appelle Lieux; mais ce n’est point par cette methode quòn les trouve“) Arnauld bietet zwar selbst noch einen Katalog von loci, aber nur aus Respekt vor den vielen Berühmtheiten, die die sich zu diesem Thema geäußert haben [10]
Das nun folgende allmähliche Erlöschen der klassischen I.-Tradition konnte auch die scharfsinnige Kritik, die von G. VICO (1668-1743) an Arnauld geübt wurde, nicht verhindern. Vico betont in seiner 1708 gehaltenen Rede ‚De nostri temporis studiorum ratione’, dass die Findung der Argumente ihrer kritisch-logischen Beurteilung notwendigerweise vorausgehe und daher unverzichtbar sei („ut argumentorum inventio prior natura est, quam de eorum veritate diiudicatio, ita topica prior critica debet esse doctrina“). Der Denkstil Descartes’ sei zwar auf die Mathematik und die Naturwissenschaften anwendbar, nicht aber auf Disziplinen wie Ethik, Jurisprudenz, Rhetorik und Poetik. Zudem müsse besonders bei der Jugend die schöpferische Phantasie gepflegt werden. Schließlich versetze erst die Heranziehung aller loci einen Redner in die Lage, den jeweiligen Gegenstand systematisch von allen Seiten zu betrachten und kein Argument auszulassen, das eventuell überzeugungskräftig sei [11]
In seinem Hauptwerk ‚Principi d’una Scienza nuova’ (1. Aufl. 1725) verfolgt Vico eine ganz andere Argumentationslinie. Statt das Ausgehen von bloß wahrscheinlichen Prinzipien als für bestimmte Disziplinen angemessen zu rechtfertigen, betont er: gerade im kulturell-historischen Bereich (mondo civile) könne der Mensch Gewissheit erlangen, da er die Kultur zum Unterschied von der Natur selbst geschaffen habe („questo Mondo Civile egli certamente è stato fatto dagli uomini“). Im Rahmen der zyklischen Geschichtstheorie, die Vico entwickelt, weist er spekulativ die Entstehung der Topik der Frühzeit der menschlichen Kulturentwicklung zu, da zu dieser Zeit der Mensch Erfindungsgabe (ingegno) und Findungstechniken nötiger hatte als Instrumente der kritischen Überprüfung. Er betont entsprechend, die Topik mache den Geist erfinderisch, während die Kritik ihn exakt mache („la Topica è la facultà di far le menti ingegnose, siccome la Critica è di farle esatte“) [12]
Trotz dieser Entwicklung in Rhetorik und Philosophie hatte die rhetorische I.-Lehre in der Poetik der Renaissance- und Barockzeit noch lange eine herausragende Stellung. Ausgangspunkt waren die Poetik des Aristoteles und Horaz’ Ars poetica. Deren Grundgedanken wurden mit Konzepten der Rhetorik fusioniert. Aristoteles’ Prinzip der Mimesis - die Dichtung hat die Natur nachzuahmen - wird im Sinne der I. gesehen, die die entsprechenden Inhalte (res) beschafft, die dann im Rahmen der elocutio ausformuliert werden (verba). Horaz’ Forderung nach Sachkenntnis des Poeten wird ähnlichen Forderungen nach umfassenden Kenntnissen des Redners in der Rhetorik gleichgestellt. So wird 1527 die erste selbstständige Poetik der Renaissance von M. G. VIDA nach inventio, dispositio und elocutio gegliedert. [13] Die „vielleicht einflussreichste unter den humanistischen Poetiken“ [14] war die 1561 erschienene Poetik von J. C. SCALIGER (1484-1558). Scaliger führt die Fähigkeit der Dichter, Stoffe zu erdichten, auf die doppelte Inspiration durch die Musen zurück, die die Dichter sowohl zur I. als auch zur kritischen Beurteilung (iudicium) der gefundenen Inhalte befähigen. [15] Ganz im Sinne des loci-Kataloges in Ciceros ‚De inventione’ unterscheidet Scaliger personen- und sachbezogene loci („Res omnis aut est persona, aut extra personam“). Im dritten Buch seiner Poetik bietet er einen detaillierten Katalog solcher loci, den er mit zahlreichen literarischen Beispielen illustriert. [16]
Scaliger wirkte direkt oder indirekt auf zahlreiche Barockpoetiken, z.B. beruft sich. M. OPITZ (1597-1639) in seiner knappen Darstellung der „Erfindung der Dinge“ im ‚Buch von der Deutschen Poeterey’ (1624) ausdrücklich auf ihn. [17]
Diese I.-Tradition bildet in der gesamten deutschen Barockpoetik die zentrale Grundlage für die Stoffindung, beispielsweise in Werken wie PH. HARSDÖRFFERs ‚Poetischer Trichter’ (1647), A. BUCHNERs ‚De commutata ratione dicendi’ (1680) oder M.D. OMEIS’ ‚Gründliche Anleitung zur Teutschen accuraten Reim- und Dicht-Kunst’ (1704). Die loci werden in verschiedenen Varianten dargeboten und als Instrumente der Inhaltsfindung, aber auch als Mittel zur pathetischen Amplifizierung des Inhalts genützt. [18] So unterscheidet etwa Harsdörffer (1607-1658) vier Hauptarten von loci: „Die Erfindung wird entweder hergeführet von dem Wort/ oder von dem Dinge selbsten/ darvon man handelt/oder von den Umständen desselben/ oder von gehörigen Gleichnissen“ Hier erkennt man unschwer traditionelle Kategorien wie die loci ex notatione, a definitione, a circumstantiis (locus, tempus, etc.), a similibus wieder. Bei der wortbezogenen I. behandelt Harsdörffer Techniken des Wortspiels, der Klangmalerei, der Zahlen- und Buchstaben-Kombinatorik. Dies zeigt, dass die I. bei ihm in die elocutio übergeht und belegt außerdem den Einfluß der kabbalistischen Mystik. [19] Ein schönes Beispiel für die Verwertung der klassischen I., das „die im 17. Jahrhundert allgemein übliche Verfahrensweise wie kaum ein anderer Text“ [20] verdeutlicht, liefert Omeis, der ein Gedicht zum Thema „Der Krieg ist höchstverderblich“ systematisch aus verschiedenen loci (u.a. etymologische Deutung des Namens, Definition, Wirkungen, bewirkende Ursache, Ähnliches, Gegensätze) aufbaut.
Typisch für die Dichtungstheorie des deutschen Barocks ist auch die Forderung nach umfassender Gelehrtheit. Die schon in der bisherigen Tradition vorzufindende Praxis, Zitate, Sentenzen, Sprichwörter in Katalogen, Thesauren, Florilegien etc. zu sammeln, wird gesteigert. Mithilfe der loci werden diese Sammlungen zu umfassenden Enzyklopädien geordnet. Die Topik wird hier von einer Findungslehre zu einem Verwaltungssystem gesammelten Wissens. Neben den klassischen loci der I. spielt für die Wissenserschließung auch die Kombinatorik des Raimundus Lullus eine bedeutende Rolle, z.B. in den enzyklopädischen Systemen von J. H. ALSTED, A. KIRCHER und J.A. COMENIUS, die darüberhinaus auch von Petrus Ramus und der Kabbala beeinflußt sind. [21] Die Kombinatorik des Lullus wirkt auch auf G.W. LEIBNIZ (1646-1716), der sie in seiner Dissertation ‚De arte combinatoria’ (1666) zu einer universalen Idealsprache im Dienste einer schöpferischen Logik („logica inventiva“) zu erweitern versucht. Diese formale Sprache, an deren Verwirklichung Leibniz sein Leben lang ohne endgültigen Erfolg arbeitete, soll durch die Abbildung von Elementarbegriffen auf Zahlenwerte die Ableitung bzw. Überprüfung der Wahrheit von Sätzen durch arithmetische Operationen und damit eine streng logische Diskussion über beliebige Themen ermöglichen. [22]
Anders als in der deutschen Barockpoetik spielen in der einflussreichsten Poetik der französischen Klassik, N. BOILEAUs (1636-1711) ‚L’Art poétique’ (1674), die loci-Kataloge keine Rolle. Jedoch findet sich die von Horaz in Übereinstimmung mit der Rhetorik geäußerte Forderung nach Sachkenntnis des Dichters auch bei Boileau. [23] In Verschärfung von Aristoteles’ Forderung nach Einheit der Handlung der Tragödie vertritt Boileau das vieldiskutierte Postulat der drei Einheiten: die kunstgemäße Entwicklung des Geschehens erfordere, dass sich eine Handlung an einem Ort binnen eines Tages abspiele.
(„Nous voulons qu’avec art l’Action se ménage: Qu’en un lieu, qu’en un jour, un seul Fait accompli Tienne jusqu’à la fin le Theatre rempli“) [24] Boileau betont jedoch auch, dass die Kunst es einem schöpferischen Geist gestatte, bisweilen die durch die Regeln gesetzten Grenzen zu überschreiten. Angesichts dieser Feststellung wirken manche Polemiken aus der Sturm- und Drang-Zeit gegen die französische Poetik etwas übertrieben. [25]
Die starke Ausstrahlungskraft der Rhetorik in Renaissance und Barock brachte es mit sich, dass auch in der Malerei und der Musik Prinzipien der rhetorischen I. für die inhaltliche Gestaltung des Bildes bzw. die Findung musikalischer Motive und Themen eingesetzt wurden. So legt schon L. B. ALBERTI in seinem Werk ‚De pictura’ (1435) den Malern eine intensive Auseinandersetzung mit Poetik und Rhetorik ans Herz. So könne der Maler viele Anregungen für die Findung des Bildinhaltes („historia“) gewinnen, und das meiste Lob erreiche man eben durch die Erfindung („omnis laus praesertim in inventione consistit“). [26] P. PINO gliedert die Malkunst in seinem ‚Dialogo di pittura’ (1548) teilweise nach dem Ordnungsschema der Rhetorik in die Stadien Entwurf („disegno“), Findung des Bildinhalts („invenzione“) und Ausmalen („colorire“). L. DOLCEs ‚Dialogo della pittura intitolato l’Aretino’ (1557) enthält die gleiche Dreigliederung des Malprozesses sowie Erörterungen zum Verhältnis von Bildinhalt („favola“/“historia“) und schöpferischem Geist („ingegno“) des Künstlers, der sich vor allem in der Anordnung und der Angemessenheit des Bildinhaltes zu bewähren hat. [27]
In der Musiktheorie wird von A. Kircher in seiner ‚Musurgia universalis’ (1650) die Komposition in inventio, dispositio und elocutio gegliedert. In Kompositionslehren des 16.-18. Jh. werden die rhetorischen loci als Findungstechniken für musikalische Themen empfohlen, z.B. von J.D. HEINICHEN, der in seinem Werk ‚Der Generalbaß in der Composition’ (1728) schreibt: „Unsere Gedanken aber auf gute Ideen zu leiten und die natürliche Fantasie aufzumuntern, solches kann meines Erachtens nicht besser geschehen, als durch die oratorischen Locos Topicos“. J. MATTHESON (‚Der vollkommene Kapellmeister’ 1739) geht noch über Heinichen hinaus, dem er vorwirft, zu wenig Gebrauch von der rhetorischen I. gemacht zu haben, da er nur einige wenige loci ausgewählt habe. Mattheson zählt dagegen 15 loci aus den klassischen Katalogen auf und adaptiert sie für die Themenfindung: als „fast die reichste Quelle“ wird der locus notationis bezeichnet, wobei dieser rhetorischen Namensdeutung und -umformung in der Musik Techniken der Umstellung oder Wiederholung von Noten entsprechen; als danach „sicherste und wesentlichste Handleitung zur Invention“ wird der locus descriptionis bezeichnet, worunter die musikalische Imitation von Emotionen zu verstehen ist. Mattheson behandelt aber auch weitere loci wie musikalische Vergleiche, Gegensätze sowie direkte Zitate aus Werken renommierter Komponisten, die den loci auctoritatis (Autoritäts-loci) entsprechen. [28]
Allgemein ist festzustellen, dass die Findung von Tonfolgen, die bestimmte Inhalte zum Ausdruck bringen, in der Musik noch unzertrennlicher mit den entsprechenden musikalischen Figuren verbunden ist als die verbalen Stilfiguren mit den Sachinhalten einer Rede.
J.S. BACH (1685-1750) war mit dem rhetorischen System der I. bestens vertraut, was sich in seinen Kompositionen vielfach zeigt und schon von Zeitgenossen festgestellt worden ist. [29]
Seit dem 16. Jh. werden in ganz Europa Musikstücke als ‚Inventionen’ (‚inventiones’, ‚inventions’, ‚invenzioni’) bezeichnet, besonders dann, wenn deren Neuartigkeit oder der Reichtum an musikalischen Einfällen betont werden soll. Bekannt sind die 15 zweistimmigen Inventionen Bachs, die er selbst in der ‚Aufrichtigen Anleitung’ (1723) im Klavierbüchlein für seinen Sohn Wilhelm Friedemann Bach ‚inventiones’ nannte. [30]
1. Vgl. B. Vickers: In Defence of Rhetoric (Oxford 1988) 282. - 2. P. Melanchthon: Elementorum rhetorices libri duo, in: J. Knape (Hg)(1993) 122.- 3. Melanchthon [2] 138. - 4. Melanchthon [2] 124. - 5. G.J. Vossius: Rhetorices contractae, sive partitionum oratoriarum libri quinque (Venetiis 1721) 6f., 10, 15f.; vgl. W. Barner: Barockrhet. (1970) 265ff.- 6. C. Soarez: De arte rhetorica libri tres (Coloniae 1594) 6, 17, 33f.; vgl. Barner [5] 336ff.; B. Bauer: Jesuit. ‚ars rhetorica’ im Zeitalter der Glaubenskämpfer (1986) 147ff. - 7. Chr. Weise: Politischer Redner (1681); vgl. Barner [5] 168. - 8. P. Ramus: Dialecticae institutiones-Aristotelicae animadversiones (1543; Neudr. 1964) 9r, 20v, 20r,58r; vgl. W.J. Ong: Ramus, Method and the Decay of Dialogue (Cambridge/Mass. 1958); C. Vasoli: La dialettica e la retorica dell’Umanesimo. „Invenzione“ e „Metodo“ nella cultura del XV e XVI secolo (Milano 1968); G. Oldrini: En quête d’une méthodologie: la position du ramisme, in: Argumentation 4 (1991) 397-401. - 9. Vgl. Ramus [7] 51r, 52v; Ch. Perelman: Das Reich der Rhetorik (1980) 13f.; ders.: Pierre de La Ramée et le déclin de la rhétorique, in: Argumentation 4 (1991) 347-356; B. Lamy: La rhétorique ou L’art de parler (1670; Neudr. Brighton 1969) 308ff. - 10. A. Arnauld: La logique ou L’art de penser Bd I (1662; Neudr. 1965) 241f., 245; vgl.W. Risse: Die Logik der Neuzeit, Bd II (1970) 65ff. - 11. G. Vico: De nostri temporis studiorum ratione (1947) 28, 30. Vgl. J. Kopperschmidt: Topik und Kritik, in: D. Breuer/H. Schanze (HG.): Topik (1981) 171-187. - 12. G. Vico: Principi di Scienza Nuova (sic!) Bd I (Milano 1831) 178, 314.; vgl. E. Coseriu: Die Geschichte der Sprachphilosophie von der Antike zur Gegenwart, Teil II (1972) 86ff. - 13. Vgl. A. Buck: Einleitung zu: Julius C. Scaliger: Poetices libri septem (1561; Neudr. 1964) VIII. - 14. Buck [13] V.- 15. Scaliger [13] 3. - 16. Scaliger [13] 80, 83ff. - 17. M. Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey, V. Kap.; in: M. Szyrocki (Hg.) Poetik des Barock (1968) 20. - 18. Vgl. J. Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition (1966) 40ff; F.G. Sieveke: Topik im Dienst poetischer Erfindung, in: Jahrbuch für Internationale Germanistik VIII/2 (1976) 24-48. - 19. P. Harsdörffer: Poetischer Trichter, in: M. Szyrocki [17] 117. - 20. Dyck [18] 57ff.- 21. Vgl. Dyck [18] 59ff.; C. Vasoli: L’enciclopedismo del Seicento (Napoli 1978). - 22. Vgl. G.W. Leibniz: Die philosoph. Schriften, Bd 4 (1880) 27-102; Vasoli [21] 71ff.; R. Blanché: La logique et son histoire d’Aristote à Russell (Paris 1970) 210f.; U. Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache (1994) 276ff. - 23. N. Boileau: L’Art poétique, I.153f., III.47f.; in: A. Buck (Hg.) (1970) 43, 85. - 24. Boileau, Art poét. III.44ff.; in [23] 85.- 25. Boileau, Art poét. IV.78ff., in [23] 126. - 26. Vgl. L.B. Alberti: De pictura 3, 53; in: C. Grayson (ed.) On Painting and On Sculpture. The Latin Texts of De Pictura and De Statua (London 1972) 31-107 ; J.R. Spencer: Ut Rhetorica Pictura: A Study in Quattrocento-Theory of Painting, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institute 20 (1957) 26-44; Vickers [1] 342ff.- 27. Vgl. Vickers [1] 354f.- 28. J.D. Heinichen: Der Generalbaß in der Composition (1728) 30; J. Mattheson: Der vollkommene Kapellmeister (1739, Neudr. 1954) 121ff.; H.H. Unger: Die Beziehungen zwischen Musik und Rhetorik im 16.-18. Jahrhundert (1941) 35ff.; A. Schmitz: Die oratorische Kunst J.S. Bachs, in: Kongreß-Bericht Gesellschaft für Musikforschung (1951) 33-49; Vickers [1] 360ff..- 29. Vgl. Schmitz [28] -30. Vgl. den Artikel ‚Invention’ in: The New Grove.Dictionary of Music and Musicians (London 1980) 284f.
C.IV. Aufklärung Die in der Tradition des rationalistisch-cartesianischen Denkens geübte Kritik an der klassischen I. hatte bereits in der Barockzeit deren Stellung im Lehrsystem der Rhetorik erschüttert. Im 18. Jh. wird die alte Findungslehre noch schärfer kritisiert und schließlich weitgehend aufgegeben.
Explizit wird die klassische I.-Tradition z.B. von CHR. THOMASIUS (1655-1728) in ‚Von dem Studio der Poesie’ (1713) kritisiert, der die positiven Regeln der Poetik in vier Imperative faßt („Lies, Beurteile, Versuche, Ändere“) und fortfährt: „Loci communes, Poetische Schatzkasten, Poetische Trichter und dergleichen Bücher mehr, ingleichen die Imitationes helfen denjenigen, die kein poetisch Ingenium haben, zu weiter nichts, als dass sie Pritschmeister [= Hanswurste, M.K.] daraus werden.“ [1]
Ähnlich betont J.CHR. GOTTSCHED (1700-1766) in seiner ‚Ausführlichen Redekunst’ (5. Aufl. 1759), dass die „Topik der Alten“ zwar nicht gänzlich zu verwerfen sei, bestreitet aber doch ihren praktischen Wert: die Anzahl der „so genannten LOCA, oder Classen und Fächer der Beweisgründe“ sei so „entsetzlich groß“, dass ihre Nutzung in zeitgenössischen Redegattungen wie Lob-, Lehr- und Complimentierreden schwer möglich sei. Stattdessen empfiehlt Gottsched dem Redner umfassende Sachkenntnis, denn ohne solches Wissen „würde ihm die ganze Topik nichts helfen“. Auch A.G. BAUMGARTEN schätzt in seiner die Ästhetik als Disziplin begründenden ‚Aesthetica’ (1750-58) den Wert der Topik relativ gering ein [2]
Wie hinsichtlich ähnlicher Kritik von Arnauld ist jedoch zu betonen, dass die Topik nie beansprucht hat, Sachkenntnis zu ersetzen, sondern nur Verfahren bereitstellt, um aus der Fülle möglicher Argumente inhaltlich relevante auszuwählen.
Gottsched fordert in seiner Poetik (‚Versuch einer critischen Dichtkunst’, 3. Aufl. 1742) auch vom Dichter umfassende Sachkenntnis, ohne auf die noch im 17. Jh. in der Poetik so verbreitete Verwendung der Topik näher einzugehen. Die entscheidende Rolle der Vernunft wird hervorgehoben: „Eine gar zu hitzige Einbildungskraft macht unsinnige Dichter: dafern das Feuer der Phantasie nicht durch eine gesunde Vernunft gemäßiget wird“ [3]. Im Anschluss an die französische Poetik fordert Gottsched für die Tragödie die Beachtung der drei Einheiten (der Handlung, des Ortes, der Zeit) und der Ständeklausel (nur hochstehende Personen können die Protagonisten einer Tragödienhandlung sein). [4]
Diese Ausrichtung der dichterischen Einbildungskraft an der Vernunft sowie an restriktiv interpretierten Regeln der aristotelischen Poetik ruft vehemente Gegenbewegungen hervor. Dabei wird die Originalität gegen die in bisher positiv bewertete Nachahmung der antiken Autoren ausgespielt, und das intuitiv schöpferische Genie des Dichters, das durch kein Regelwerk zu gängeln sei, gegen poetologische Einschränkungen verteidigt. Gleichzeitig wird Shakespeare als Natur-Genie für bedeutender als die französischen Klassiker gehalten und den antiken Autoren gleichgestellt.
In diesem Sinne vergleicht E. YOUNG (1683-1765) in seinem Essay ‚Conjectures on Original Composition’ (1759) Dichtungsregeln mit Krücken, die für einen Lahmen nützlich, für einen Starken jedoch nur ein Hindernis seien. In einer ähnlichen Analogie stellt er fest, dass Wissen und literarische Kenntnisse zwar einem unkreativen Dichter helfen können, der dann diese ‚inventorische’ Hungersnot („famine of invention“) durch eine Reise zu den fernen, reichen Klassikern der Antike wettmachen kann, aber ein kreativer Geist kann gelassen zu Hause bleiben. Shakespeare wird gepriesen und den Alten gleichgestellt [5]
Im 17. seiner ‚Briefe, die neueste Literatur betreffend’ (1959) attackiert G.E. LESSING (1729-1781) Gottsched scharf und wirft ihm insbesondere vor, den deutschen Dichtern die Franzosen als Vorbild hingestellt zu haben, statt Shakespeare, was weit besser gewesen wäre: „Denn ein Genie kann nur von einem Genie entzündet werden; und am leichtesten von so einem, das alles bloß der Natur zu danken zu haben scheinet, und durch die mühsamen Vollkommenheiten der Kunst nicht abschrecket“ [6] Im 101.-104. Stück seiner ‚Hamburger Dramaturgie’ (1768) polemisiert Lessing ebenfalls gegen die Franzosen, versucht sich aber selbst streng an die aristotelische Poetik zu halten und betont, dass die Ablehnung gewisser poetischer Regeln noch nicht die Zurückweisung aller Regeln bedeuten müsse; letzteres führe dazu, „alle Erfahrungen der vergangenen Zeit mutwillig zu verscherzen; und von den Dichtern lieber zu verlangen, dass jeder die Kunst aufs Neue für sich erfinden solle“.
Den stärksten Ausdruck fand die Natur- und Shakespeare-Verherrlichung bei gleichzeitiger Ablehnung der Kunstregeln in programmatischen Äußerungen der Sturm und Drang-Zeit. So stellt H.W. v. GERSTENBERG in seinen ‚Briefen über die Merkwürdigkeiten der Literatur’ (1766/67) die rhetorische Frage „Sollte sich wohl ein Genie finden, das sich eine Minute bedenken würde, ob es lieber dieses als jenes gemacht haben mögte?“ [8] Noch schärfer fragt J.M.R. LENZ in seinen ‚Anmerkungen übers Theater’ (1774), ebenfalls rhetorisch: „Und zum Henker hat denn die Natur den Aristoteles um Rat gefragt, wenn sie ein Genie?“ Er stellt die Mannigfaltigkeit der Natur der langweiligen Einförmigkeit der poetischen Handwerks gegenüber und betont, dass das Genie scharfsinnigste Klarsicht mit Begeisterung und Schöpfungskraft verbinde [9]
CHR.M. WIELAND rechtfertigt in seinem Aufsatz ‚Der Geist Shakespeares’ (1773) auch etwaige Mängel in Shakespeares Dramen mit Größe und Umfang seine Geistes: „Sein Genius umfaßt, gleich dem Genius der Natur, mit gleich scharfem Blick Sonnen und Sonnenstäubchen, den Elefanten und die Milbe, den Engel und den Wurm“; die anscheinende Unordnung in seinen Dramen ergebe, recht betrachtet, „ein großes, herrliches, unverbesserliches Ganzes“. [10] J.G. HERDER polemisiert in seinem Shakespeare-Aufsatz (1773) zwar gegen die Franzosen, die Aristoteles zu eng interpretiert hätten, versucht aber die aristotelische Poetik mit der Dramatik Shakespeares zu versöhnen. [11]
Eine deutliche Entwicklung und Veränderung ist bei den Stellungnahmen von J.W. v. GOETHE (1749-1832) und F. SCHILLER (1759-1805) festzustellen. In ihrer Jugend attackieren sie beide das regelgeleitete Dichten: Goethe feiert das Natur-Genie in seiner Rede ‚Zum Shakespeares-Tag’ (1771), polemisiert gegen die Franzosen und bemerkt: „Ich zweifelte keinen Augenblick, dem regelmäßigen Theater zu entsagen. Es schien mir die Einheit des Ortes so kerkermäßig ängstlich, die Einheiten der Handlung und der Zeit lästige Fesseln unserer Einbildungskraft“. Und Schiller stellt in der Vorrede zu den ‚Räubern’ (1781) fest, dass er die Komplexität der Handlung „unmöglich in die allzuenge (sic!) Pallisaden des Aristoteles und Batteux einkeilen konnte“ [12] In ihrer Weimarer Zeit orientieren sich Goethe und Schiller jedoch wieder stark an antiken Vorbildern. Goethe versucht, den Gegensatz von Natur und Kunst zu versöhnen und gibt einer solchen Synthese dichterischen Ausdruck in dem Sonett ‚Natur und Kunst’ (1800):
„Natur und Kunst sie scheinen sich zu fliehen,
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden; ...
Vergebens werden ungebundene Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben....
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.“
In seiner ‚Nachlese zu Aristoteles’ Poetik’ (1827) setzt sich Goethe konstruktiv mit dem aristotelischen Gedankengut auseinander und versucht, ihm eine zeitlos gültige Deutung zu geben. [13]
Schiller billigt in seiner Abhandlung ‚Über naive und sentimentalische Dichtung’ (1795/96) zwar nur dem naiven Dichter echte Genialität zu („Naiv muss jedes wahre Genie sein, oder es ist keines“...“Dadurch allein legitimiert es sich als Genie, dass es durch Einfalt über die verwickelte Kunst triumphiert. Es verfährt nicht nach erkannten Prinzipien, sondern nach Einfällen und Gefühlen“), billigt aber der sentimentalischen Dichtung durchaus eine eigene Existenzberechtigung zu. Naive Dichter (wie z.B. Aischylos, Homer, Shakespeare) ahmen das Wirkliche nach, also etwas Begrenzt-Endliches, sentimentalische Dichter (wie z.B. Euripides, Horaz, die Franzosen) stellen das Ideal dar, also etwas Unendliches. Beide Dichtertypen haben Stärken und Schwächen: „Der eine erhält also seinen Wert durch absolute Erreichung einer endlichen, der andere erlangt ihn durch Annäherungen zu einer unendlichen Größe“.[14] In seinen Briefen ‚Über die ästhetische Erziehung des Menschen’ (1795) stellt Schiller den Menschen im Anschluss an die Philosophie Kants zwischen zwei Notwendigkeiten: jene seiner sinnlichen Natur („sinnlicher Trieb“, „Stofftrieb“) und jene seiner sittlichen Vernunft („Formtrieb“). Dazwischen liegt der eigentlich menschliche Bereich des Ästhetischen, in dem allein ihm Freiheit möglich ist, dadurch dass er schöpferisch-spielerisch Stoff und Form verbindet („der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“). Die freien Ideenspiele der Phantasie und Einbildungskraft müssen allerdings in dieser Sicht durch die Form gebändigt werden, sonst gehören sie noch ausschließlich zum animalischen Leben des Menschen. Umgekehrt verhindert ökonomisches Elend von vornherein die Entfaltung der schöpferischen Potenzen: „so lange die Not gebietet und das Bedürfnis drängt, ist die Einbildungskraft mit strengen Fesseln an das Wirkliche gebunden“. Eine solche Ästhetik ist allerdings gefährdet, bürgerlichen Interessen die ideologische Rechtfertigung zu liefern: ohne Forderung nach ökonomischer Emanzipation breiter arbeitender Schichten bleibt der scheinbar interesselose ästhetische Bereich Privilegierten vorbehalten, wie Bornscheuer zu Recht betont. [15] Gleichzeitig ergibt sich aus Schillers Konzeption des Ideals als Richtwert des sentimentalischen Dichters, aus der Anweisung, „aus dem Bunde des Möglichen mit dem Notwendigen das Ideal zu erzeugen“, eine Entfernung von der klassischen I., „eine Grenzüberschreitung gegenüber der seit der Antike von der Rhetorik kultivierten Einbildungskraft, deren „ars inveniendi“ stets an den hermeneutischen Horizont einer allgemeinen Topik gebunden war“ [16]
Auch bei I. KANT (1724-1804)), dessen ‚Kritik der Urteilskraft’ Schillers Ästhetik die theoretischen Prämissen gab, wird die poetische Einbildungskraft von der rhetorischen I. getrennt, da Kant der Rhetorik ein falsches Spiel mit der Einbildungskraft vorwirft, mit Techniken, die der Dichtung entlehnt seien. Der Dichtung wird damit ein klarer Vorrang gegenüber der Rhetorik zugebilligt, in deutlicher Umkehrung des jahrhundertelang gebilligten Abhängigkeitsverhältnisses. Das Genie definiert Kant in einer Weise, die herausragende Naturanlagen mit dem Regelbegriff der Poetik in einen Zusammenhang bringt: „Genie ist die angeborene Gemütsanlage (ingenium), durch welche die Natur der Kunst die Regel gibt“. Zum Genie, das nach Kant nur in den schönen Künsten, nicht aber in der Wissenschaft zu suchen ist, gehört nämlich nicht nur, dass es selbst von Regeln unabhängig ist (Originalität). Es muss auch exemplarisch werden, d.h. anderen als Richtmaß gelten und so Regeln für die Dichtkunst stiften. [17]
Anmerkungen:
1. Vgl. Chr. Thomasius: Von dem Studio der Poesie, 8.Kap. der Höchstnötigen Cautelen für einen Studiosus juris, in: Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung (1938) 124. - 2. Vgl. J.Chr. Gottsched: Ausführliche Redekunst , VI.2., in: Ausgewählte Werke 7. Bd. 1.Teil (1975) 164f.; 171; A.G. Baumgarten: Aesthetica (1750-1758) § 129ff.; M.-L. Linn: A.G. Baumgartens ‚Aesthetica’ und die antike Rhetorik, in. Dte Vierteljahresschrift f. Literaturwiss.u. Geistesgeschichte 41/14 (1967) 424-443. - 3. J.Chr. Gottsched: Versuch einer critischen Dichtkunst: Erster Allgemeiner Theil (1742, Neudr. 1973) 158; vgl. H. Schanze: Rhetorik und Literaturwissenschaft. Zum Verhältnis von Produktionstheorie und Analysesystem von Texten im 18. Jahrhundert, in: H.F. Plett (Hg.): Rhetorik (1977) 62-76. - 4. J.Chr. Gottsched: Von Tragödien, in: Schriften zu Theorie und Praxis aufklärerischer Literatur (1970) 98ff.- 5. Vgl. E. Young: Conjectures on Original Composition (Manchester 1918) 14, 20, 34.- 6. Vgl. G.E. Lessing: Werke, Bd II (1969) 750.- 7. Lessing [6] 692.- 8. H.W. Gerstenberg: Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur, 2. Sammlg, 14.-18.Brief (1890) 115.- 9. J.M.R. Lenz: Werke und Briefe, Bd 2 (1987) 648, 654, 660; V. Zmegac (Hg.): Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jh. bis zur Gegenwart, Bd I,1 (1979) 214ff.- 10. Chr.M. Wieland: Aufsätze zu Literatur und Politik (1970) 15f. - 11. J.G. Herder: Schriften (1968) 47ff. - 12. J.W.v. Goethe: Sämtliche Werke 1.2 (1987) 412; F. Schiller: Werke 3. Bd (1953) 5. -13. Goethe: Sämtliche Werke 6.1. (1986) 780; Sämtliche Werke 13.1.(1992) 340-343. - 14. F. Schiller: Werke, 20.Bd , 1. Teil (1962) 424, 438.- 15. Vgl. F Schiller [14] 354, 359, 399; G. Ueding: Schillers Rhetorik (1971) 128ff.; L .Bornscheuer: Zum ideologischen Problem des Rhetorischen und Ästhetischen Scheins- eine Skizze, in: Jahrbuch f. Internat. Germanistik XI/1 (1977) 8-26; H. Turk: Poesie und Rhetorik, in: C.J. Classen/H.J. Müllenbrock (Hg.): Die Macht des Wortes Aspekte gegenwärtiger Rhetorikforschung (1992) 131-148. - 16. Schiller [14] 576; Bornscheuer [15] 255. -17. I. Kant: Akademie-Textausgabe Bd 5 (1902, Neudr. 1968) 307, 321, 326f.; D. Teichert: Immanuel Kant: ‚Kritik der Urteilskraft’ (1992) 90.
C.V. 20. Jahrhundert Die klassische Tradition der I. kam im Laufe des 18. Jh. zum Erliegen. Dazu kommt im 18. und noch mehr im 19. Jh. die weit verbreitete theoretische Geringschätzung der Rhetorik insgesamt. [1] So ist es kein Wunder, wenn im 19. Jh. gelegentliche Versuche, den Wert der alten Findungslehre zu verteidigen, wie z.B. E. THIONVILLES Geschichte der Topik ‚De la théorie des lieux communs dans les Topiques d’Aristote...’ (1855), in der er den aristotelischen Toposbegriff gegen die gängige Gleichsetzung mit ‚Gemeinplatz, Klischee’ klar abgrenzt, keine größere Wirkung ausüben, geschweige denn eine Trendwende herbeiführen. Auch in der Literaturtheorie spielt die rhetorische I. z.B. in F. SPIELHAGENS Essay zu Produktionsstrategien des Romanautors (‚Finder oder Erfinder?’ 1871) keine Rolle. [2] Erst im 20 Jh. beginnen wieder verstärkte Bemühungen um die I., die teils direkt an die klassische Rhetorik anschließen, teils indirekt deren Begriffsinventar übernehmen und fortführen, teils neue Wege der I. beschreiten.
Eine direkt an den Konzepten der antiken Rhetorik orientierte Beschreibung der I. findet sich in systematischen oder historischen Abrissen und Gesamtdarstellungen des klassischen Lehrgebäudes, die u.a.. R. BARTHES, G. UEDING/B. STEINBRINK, G. KENNEDY, H. LAUSBERG und J. MARTIN geliefert haben. [3]
Eine Weiterführung der klassischen I. erfolgt durch CH. PERELMAN und TH. VIEHWEG. Perelman entwickelt im zusammen mit L. OLBRECHTS-TYTECA verfaßten Werk ‚Traité de l’argumentation’ (1958) eine umfassende Typologie von Mustern der Argumentation, die sich an antiken loci-Katalogen orientiert. Perelman/Olbrechts-Tyteca setzen ihre argumentativen Schemata („schèmes de liaison“) ausdrücklich den klassischen loci gleich („lieux de l’argumentation“), beschreiben aber auch zahlreiche neue und in der alltäglichen Argumentation häufige Schemata. Sie ersetzen die klassischen Typologien durch eine neue Systematik, die allerdings nicht unproblematisch ist, da sie eine Reihe von Abgrenzungsschwierigkeiten und Inkonsequenzen aufweist. [4] In deutlicher Frontstellung gegen die axiomatisch-deduktive Methode versuchen Perelman/Olbrechts-Tyteca darüber hinaus, den Denkstil der Topik für Argumentationen in nichtformalen Bereichen (z.B. Ethik, Politik, Religion) zu legitimieren. Für diese Bereiche wird das Ausgehen der klassischen Topik von bloß wahrscheinlichen Grundsätzen verteidigt, die jeweils flexibel an Kontext, Situation und Zuhörerschaft angepasst werden müssen und daher keine zwingende Ableitung von Konklusionen erlauben. Der Philosoph und Jurist Perelman hat in diesem Sinne auch in die juristische Methodendiskussion eingegriffen, ähnlich wie schon Viehweg einige Jahre früher in seiner Abhandlung ‚Topik und Jurisprudenz’ (1953) den topischen Denkstil gegen Versuche, deduktive Rechtssysteme zu etablieren, ins Treffen führte. dass die Topik einen Platz in bestimmten Bereichen der juristischen Argumentation hat, wird auch von Juristen, die Perelman und Viehweg kritisch gegenüberstehen, zugegeben. [5]
In der Literaturwissenschaft hat E.R. CURTIUS mit seinem Werk ‚Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter’ (1948) eine ganz anders geartete Renaissance der Topik eingeleitet: Topoi werden hier im Anschluss an ein Verständnis, das zwar ebenfalls bereits in der Antike anzutreffen ist, aber mit dem aristotelischen Konzept wenig gemeinsam hat, als Leitmotive, inhaltliche Klischees und Stereotype aufgefasst. Diese Topoi spielen in der literarischen Tradition eine wichtige Rolle und liefern den Autoren Ausgangspunkte für die dichterische Gestaltung des Stoffes. Solche Topoi sind z.B. die Anrufung der Natur, die Schilderung einer Ideallandschaft, die Klage über die verkehrte Welt etc. [6]
Das Problem, Argumente zu finden, wird auch in den Abhandlungen zur angelsächsischen Tradition der akademischen Debatte („academic debate“) ausführlich erörtert. Diese Tradition versammelt nach genau fixierten Regeln der Diskussionsführung etwa seit Beginn des 20. Jh. Teams von StudentInnen an Colleges und Universitäten zu jährlich stattfindenden Tournieren. Dabei entscheidet eine Jury, wer zu der zur Diskussion gestellten These (meist aus dem Bereich aktueller Politik) die besseren Argumente geliefert hat. In Handbüchern zur Debattenführung wird für die Findung von Argumenten einerseits auf enzyklopädische Techniken verwiesen (die Sammlung, Prüfung und Nutzung von Informationen in Zeugenaussagen, Expertengutachten, Statistiken, Nachschlagewerken, Zeitschriften), andererseits auf eine an die antike Statuslehre erinnernde Systematik von zentralen Gesichtspunkten, die zur Debatte stehen („stock issues“). Dabei geht es für die Verteidiger einer These darum, Argumente zu suchen, die zeigen, dass das angesprochene politische Problem 1. tatsächlich besteht und schwerwiegend ist („existence“, „significance“), 2. mit den bisherigen politischen Maßnahmen nicht gelöst werden kann, d.h. dem Status quo inhärent ist („inherency“), 3. mit einem Plan für neue Maßnahmen erfolgreich gelöst werden kann („solvency“), 4. und schließlich, dass die neuen Maßnahmen gegenüber den bisherigen mehr Vorteile als Nachteile aufweisen („advantages“). Die Verteidiger müssen alle Punkte 1.-4. überzeugend nachweisen, die Angreifer nur einen Punkt widerlegen. [7]
In zeitgenössischen Rhetorik-Handbüchern werden auch weitere Techniken zur Stofffindung erörtert. Dabei handelt es sich häufig um Kreativitätstechniken, die für das individuelle Arbeiten oder für die Kooperation in der Gruppe gedacht sind. So können in einem ‚Morphologischen Kasten’ verschiedene inhaltliche Parameter in einer Tabelle kombiniert werden, z.B. Personen, Schauplätze, Handlungsmotive und -abläufe für eine Geschichte. Eine sinnvolle Auswahl aus diesen Kombinationen kann als Sammlung von Bausteinen für die Verfassung des Textes verwendet werden. In einem ‚Problemlösungsbaum’ kann das zu bewältigende Problem durch eine Serie von Entscheidungsschritten immer feiner eingegrenzt werden, bis zuletzt eine Lösung gefunden ist, was allerdings großes Sachwissen voraussetzt. In Kleingruppen können ‚Brainstorming’- (bzw. ‚Brainwriting’-)Techniken eingesetzt werden. Dabei geht es darum, dass zunächst in lockerer, ungezwungener Atmosphäre möglichst viel Ideen gesammelt und notiert werden. Kritik und Analyse ist dabei ausgeschlossen. Erst in einer weiteren Phase werden diese Ideen einer kritischen Prüfung bezüglich ihrer Eignung für die Problemlösung unterzogen. [8]
Bei der Auswahl der mithilfe der Kreativtechniken gesammelten Informationen und der Entfaltung und Ausarbeitung der Themen sind auch einprägsame Kurzformeln von Bedeutung. Beispiele dafür sind die im Rahmen der Werbung entwickelte AIDA-Formel („attention-interest-desire-action“) und im Journalismus gängige Listen von 3, 5, 7 oder 10 Kernfragen („Wer/was/wann/wo/warum“ etc.), die der Text beantworten soll. Für die Kommunikationsforschung hat H.D. LASSWELL die nach ihm benannte Formel entwickelt, die mit 5 Fragen 5 Forschungsbereiche erschließt: „Who says What in Which Channel to Whom with What effect?“ [9]
Hier sind Vorläufer und Analogien in der klassischen I. unschwer zu erkennen (verschiedene loci, Topik der Einleitung, inventorische Merkverse).
Auch in Anleitungen zum Verfassen von Schulaufsätzen (Problemerörterungen) und in stilistischen Ratgebern ist das Nachwirken der I.-Tradition spürbar. So wird z.B. für die Stoffsammlung empfohlen, neben dem Notieren spontaner Einfälle (Brainstorming) das Thema systematisch mit W-Fragen (wer? wo? wann? etc.) zu bearbeiten, Schlüsselbegriffe zu definieren, Synonyme und Gegensätze zu suchen, Beispiele sowie Zitate, Redewendungen und Sprichwörter zu sammeln.
L. REINERS verweist in seiner vielfach neuaufgelegten ‚Stilfibel’ auf den Ausspruch Cato des Älteren „Rem tene, verba sequentur“ (Behalte die Sache im Auge, die Worte werden folgen) und empfiehlt, vor dem Verfassen des Textes eingehend Nachschlagewerke zu konsultieren. [10]
Schließlich lassen sich indirekte Bezüge zur I.-Tradition auch in zeitgenössischen Beiträgen feststellen, die Themen wie Spiel, Phantasie, Sprachgebrauch und Textproduktion sowie (artifizielle) Intelligenz, Genialität und Kreativität behandeln. Dabei wird immer wieder betont, dass Kreativität voraussetzt, dass die Fähigkeit zur Auswahl relevanter Informationen, die Fähigkeit zum Betrachten eines Gegenstandes aus vielen verschiedenen Perspektiven, die Fähigkeit, Ähnlichkeiten, Unterschiede und neue Zusammenhänge zwischen Gegenständen oder Gegenstandsbereichen zu entdecken, die Fähigkeit zur flexiblen Anwendung von Regeln in neuen Zusammenhängen und Situationen, schließlich aber auch die Fähigkeit zur Veränderung der Regeln gegeben ist.(in diesem Sinn unterscheidet N. Chomsky in Bezug auf die Sprache zwischen regelgesteuerter Kreativität („rule-governed creativity“, „the kind of creativitiy that leaves the language unchanged“) und regelverändernder Kreativität („rule-changing creativity“). Dies schließt auch selbstbezügliche und dabei manchmal paradoxe Regelanwendungen ein und dürfte wohl am stärksten den inneren Kern der Kreativität ausmachen. [11]
1. Vgl. J. Dyck: Philosophisches Ideal und rhetorische Praxis der Aufklärung: Eine Problemskizze, in: H. Schanze/J. Kopperschmidt (Hg.): Rhetorik und Philosophie (1989) 191-200. - 2. Vgl. E. Thionville: De la théorie des lieux communs dans les Topiques d’Aristote et les principales modifications qu’elle a subies jusqu’à nos jours (1855, Neudr. 1965); F. Spielhagen: Beiträge zur Theorie und Technik des Romans (1883, Neudr. 1967) 1-34. - 3. Vgl. R. Barthes: L’ancienne rhétorique, Aide-memoire, in: Communications 16 (1970) 172-229; Ueding, G./Steinbrink B.: Grundriß der Rhetorik (1986); G. Kennedy: The Art of Rhetoric in the Roman World (Princeton 1972); G. Kennedy: Classical Rhetoric and its Christian and Secular Tradition from Ancient to Modern Times (Chapel Hill 1980); H. Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik (1960); J. Martin: Antike Rhetorik (1974). - 4. Vgl. Ch. Perelman/L. Olbrechts-Tyteca: Traité de lárgumentation (Bruxelles 1983) 255, 259ff.; P.J. Schellens: Redelijke Argumenten (Utrecht 1985) 57ff.; F. Van Eemeren/R. Grootendorst/T. Kruiger: Handbook of Argumentation Theory (Dordrecht 1987) 253ff.; M. Kienpointner: Alltagslogik (1992) 193ff.- 5. Vgl. Ch. Perelman: Juristische Logik als Argumentationslehre (1979); Th. Viehweg: Topik und Jurisprudenz (1974); U. Diederichsen: Rechtswissenschaft und Rhetorik, in: C.J. Classen/H.J. Müllenbrock (Hg.): Die Macht des Wortes. Aspekte gegenwärtiger Rhetorikforschung (1992) 205-236. -6. E.R. Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mitelalter (1948); P. Jehn (Hg.): Toposforschung (1972). - 7. Vgl. A.J. Freeley: Argumentation and Debate (Belmont 1986); A. Braet: De antieke statusleer in modern perspectief (Groningen 1984); A. Braet/R. Berkenbosch: Academisch debatteren. Theorie en praktijk (Groningen 1990). - 8. Vgl. R. Hofmeister: Rhetorik, Handbuch der Redekunst , 2 Bde (1993) 69ff. - 9. Hofmeister [8] 90ff.; H.D. Lasswell: The Structure and Functions of Communication in Society, in: L. Bryson (ed.): The Communication of Ideas (New York 1948) 37; H. Prakke: Die Lasswell-Formel und ihre rhetorischen Ahnen, in: Publizistik 10 (1965) 285-291. - 10. Vgl. D. Gall: Aufsatz Oberstufe (1990) 4; D. Lübke: DUDEN Abiturhilfen, Der deutsche Aufsatz (1991) 67; L. Reiners: Stilfibel (1968) 161; B. Asmuth: Die Entwicklung des deutschen Schulaufsatzes aus der Rhetorik, in: H.F. Plett (Hg.): Rhetorik (1977) 276-292; L. Bahmer: Antike Rhetorik und kommunikative Aufsatzdidaktik (1991). - 11. Vgl. N. Chomsky: Current Issues in Linguistic Theory (The Hague 1966) 22; A. Koestler: Der göttliche Funke (Bern 1966) 24ff.; M. Eigen/R. Winkler: Das Spiel (1975) 214ff.; J. Galtung: On the Structure of Creativity, in: Papers on Methodology, vol. 2 (Copenhagen 1979) 210ff.; G. Bateson: Ökologie des Geistes (1983) 241ff.; D.R. Hofstadter: Gödel-Escher-Bach (1986) 29f.; 717f.; H. Ortner: Auf dem Weg zu einer realistischen Theorie des Schreibens, in: P. Herdina (Hg.): Methodenfragen der Geisteswissenschaft (Innsbruck 1992) 15-65; M.L. Neubeiser: Die Logik des Genialen (1993); V. Scheitlin: Kreativität (Zürich 1993).
Literaturhinweise:
H.H. Eggebrecht: Invention, in: Riemann Musik-Lexikon (1967) Bd 3, 416f. - I.Chr.Th. Ernesti: Inventio, in ders.: Lexicon Technologiae Latinorum Rhetoricae (1797, Neudr. 1962) 224-227. - A. Hügli/U. Theissmann: Invention, Erfindung, Entdeckung, in: HWPh, Bd 4, 544-574. - M. Kranzberg: Inventions and Discoveries, in: Encyclopaedia Britannica (Chicago 1971) Bd 12 464-470.- R.A. Lanham: Invention, in. ders.: A Handlist of Rhetorical Terms (Berkeley 1991) 166-171.“
Manfred Kienpointner (Universität Innsbruck, Austria)
«Invención (“Inventio”)
Primera parte de la Retórica que se ocupa de buscar los argumentos e ideas, que luego han de ordenarse mediante la disposición.»
[Lázaro Carreter, F.: Diccionario de términos filológicos. Madrid: Gredos, 1981, p. 246]
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invención. (Del lat. inventĭo, -ōnis).
1. f. Acción y efecto de inventar.
2. f. Cosa inventada.
3. f. Engaño, ficción.
4. f. Parte de la retórica que se ocupa de cómo encontrar las ideas y los argumentos necesarios para desarrollar un asunto. [DRAE]
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