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MYTHOS Deutsche Zitate

(comp.) Justo Fernández López

Diccionario de lingüística español y alemán

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Vgl.:

Mythos und Logos / Mythologem / Mythos und Ideologie / Ideologie / Mythos und Symbol / Phantasie / Phantasma / Einbildungskraft / Analogie / Literatur / Fiktion / Legende / Poesie / Narrativität / Symbol / Metapher / Symbolik / Ideologie / Imaginär / Mythos in der psychoanalytischen Theorie / Mythos und Ideologie in der Wissenschaft

«Nichts ähnelt dem mythischen Denken mehr als die politische Ideologie»

[Lévi-Strauss, Cl.: Strukturale Anthropologie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1967, S, 23]

„Die Verlagerung der Thematik auf die Probleme des Mythos ergibt sich zwangsläufig aus der Entwicklung der Wissenschaftstheorie selbst. [...] Dies war kein Plädoyer für den Mythos. Es war nur eines für die sachliche Auseinandersetzung mit ihm.“

[Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos. München: Beck, 1985, S. 414]

„Es wird dem Menschen nicht leicht fallen, an die Beginnlosigkeit der Welt zu glauben. Liegt es daran, dass er sie nicht denken kann? Dass es in seinem «System» einen unauslöschlichen, unersetzlichen Mythos von Anfang gibt und geben muss? Der Wahrheit näher käme die physikalische Imago von einem steady state, das Zeit, Raum, Leben, Ich und andere in einen einzigen konturlosen Nebel hüllt – eine bewegte Aufgelöstheit der Dinge und Benennungen, in der Alles zu einem Etwas zerrieben, das Ganze zu einer Sämtlichkeit abgewandelt erschiene und folglich vom einzelnen Ereignis nicht zu sagen wäre, ob es vorbei ist oder ankommt oder immer da war” (Strauß, Botho: Beginnlosigkeit. Reflexionen über Fleck und Linie. München: Carl Hanser, 1992, S. 38f.).

[Zit. Signer, David: Konstruktionen des Unbewussten. Die Agni in Westafrika aus ethnopsychoanalytischer und poststrukturalistischer Sicht. Wien: Passagen Verlag, 1994, S. 164]

„Remtyhologisierung oder mythenverdrängende Rationalität, bis heute unvermindert aktuell; es wäre verderblich, sich dieser Alternative zu beugen.”

[Heinrich, Klaus: “Notiz zur Neuauflage” (1982), in: ders. Vernunft und Mythos. Ausgewählte Texte. Frankfurt a. M.: Fischer TV, 1983, S. 215]

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„Me-ti sagte: Wenn man Bronze- oder Eisenstücke im Schutt findet, fragt man: Was waren das in alter Zeit für Werkzeuge? Wozu dienten sie? Aus den Waffen schließt man auf Kämpfe; aus den Verzierungen auf Handel. Man ersieht Verlegenheiten und Möglichkeiten aller Art.

Warum macht man es mit den Gedanken aus alten Zeiten nicht auch so?“

[Brecht, Bertolt: Me-ti. Buch der Wendungen. Prosa 5, Frankfurt a. M., 1965, S. 175. Zit. Heinrich, Klaus: Parmenides und Jonas. Frankfurt/M.: Roter Stern, 1982, S. 5]

„Man muss dem intellektuellen Faschismus den Mythos wegnehmen und ihn ins Humane umfunktionieren. Ich tue längst nichts anderes mehr.”

[Thomas Mann an Karl Kerényi, Pacific Palisades, California, 7. September 1941. Zit. Klaus Heinrich: “Zur Sache” (1962/1972), in: ders. Vernunft und Mythos. Ausgewählte Texte. Frankfurt a. M.: Fischer TV, 1983, S. 5]

„Seit je hat Aufklärung im umfassendsten Sinn fortschreitenden Denkens das Ziel verfolgt, von den Menschen die Furcht zu nehmen und sie als Herren einzusetzen. Aber die vollends aufgeklärte Erde strahlt im Zeichen triumphalen Unheils. Das Programm der Aufklärung war die Entzauberung der Welt. Sie wollte die Mythen auflösen und Einbildung durch Wissen stürzen.“

[Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1969, S. 7]

„In der Tat lässt sich an Mythentheorien wie denen der Psychoanalyse oder des Strukturalismus zeigen, dass aufklärerische Mythenforschung Mythologie so behandelt, wie traditionell, und noch bei Freud, Weiblichkeit behandelt wird, nämlich als etwas, das als Bedrohung empfunden wird und deshalb einem Zurichtungsunternehmen unterworfen werden muss.“

[Schlesier, Renate: Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen. Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern, 1985,  S. 8]

„Nun ist Mythos selber ein sehr vieldeutiges Wort, eigentlich heißt es ja nur eben dieses, nämlich »Wort«. Es ist dann, genauer gesagt: »Erzählung«, »Geschichte«; und in der Sprache, in der es aufgeladen worden ist – übrigens recht spät erst aufgeladen, keine selber archaische Angelegenheit –, heißt es dann: die Geschichten, die man erzählt von Göttern und Halbgöttern und den Unterirdischen (Platons Definition: Politeia St. 392 A; er nennt dazu noch die daimones). Und das sind Geschichten, in denen nicht nur das Verhalten der Beteiligten festgelegt wird, sondern das aller ihrer Nachfahren und Nachfolger mit. Es wird geprägt in ‘jener’ Zeit, in der sich die Geschichten abgespielt haben, und später kann, ja muss man immer wieder hineinspringen in diese patterns. So weit der Zwangscharakter der Sache. Aber das hat nicht nur Zwangscharakter. Denn Mythen werden nicht in einer verbindlichen und normativen Form erzählt, sondern in zahlreichen, zuletzt die Unendlichkeit erreichenden Formen; sie variieren, und sie versuchen, die Geschichten, die sie erzählen – durch die sie Geschichte blockieren –, auch zugleich, qua Variation, wieder von diesem Zwang freizumachen.

Das heißt mit anderen Worten: jene Variationen dort rücken ab von der Verbindlichkeit der Kulte, die sie begleiten; es sind zu gleicher Zeit Befreiungsunternehmungen, allerdings immer wieder stockende und scheiternde – sehr realistische und sehr veristische: in den Mythen wird nicht verdrängt, sondern werden uns die Verdrängungsprozesse selbst vorgeführt, und wir können daraus lernen, die Geschichte der Gattung Mensch besser zu verstehen, vielleicht sie besser fortzusetzen als die an ihr scheiternden Heroen und Heroinen des Mythos.”

[Heinrich, Klaus: “Das Floß der Medusa”. In: Schlesier, Renate: Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen. Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern, 1985, S. 336]

Mythos - Ritus

Heinrich: Wenn man allgemein von Mythologie reden sollte, würde ich vorschlagen, nicht von Mythologie anzufangen zu reden, sondern von der Stabilität der Kulte, die samt und sonders Erschütterungen auffangen und diese in Gründungsakte verwandeln, und Mythen erzählen dann derartige Gründungsgeschichten, sind dann schon ein Stückchen weit frei gegenüber dem, was sie da erzählen, variieren es.

Bach: Ist das wirklich so? Glauben Sie, dass die Kulte vor den Mythen da sind?

Heinrich: Nein, nur dass die Kultstabilität größer ist als die der Mythen und dass den Kulten gegenüber jede Erzählung darüber schon eine gewisse Freiheit beansprucht. Wenn ich erzähle, wie etwas eingesetzt ist, imaginiere ich damit auch, dass es aufhören kann; wenn ich variiere, stelle ich zugleich in Frage und halte nicht nur fest, und davon ist ja in der neueren Literatur ebenso wie in der antiken ein großer Gebrauch gemacht worden. Das geht dann bis zu den Uminterpretationen etwa, die Goethe vornimmt, wenn er in der Iphigeniengeschichte den Thoas aus einem Barbaren umbildet in den sublimationsfähigen modernen Menschen.“

[Wolf Dieter Bach und Klaus Heinrich: „Mythos“. In: Harald Eggebrecht: Goethe – Ein Denkmal wird lebendig. München / Zürich, 1982, S. 61-62]

Bach: Die Mythen sind vielfach Paraphrasen zu erotischen Erfahrungen, die der Mensch in den Anfängen seines Lebens mit den nächsten Bezugspersonen macht, gewöhnlich mit Mutter oder Vater, und dann später mit anderen »Liebesobjekten«, wie das sehr kühl in der psychoanalytischen Sprache heißt. Nun ist bei Goethe diese merkwürdige Ambivalenz zwischen Leben und Tod zu sehen, zwischen Beglückung und auch wiederum Angst vor der Beglückung.“

[Wolf Dieter Bach und Klaus Heinrich: „Mythos“. In: Harald Eggebrecht: Goethe – Ein Denkmal wird lebendig. München / Zürich, 1982, S. 76]

„Dass Mythen und Rituale der Integration gesellschaftlicher Gruppen und der Balancierung ihrer Konflikte dienen, ist eine der Auffassungen, die sowohl Walter Burkert wie Jean-Pierre Vernant und seine Schule aus Harrisons von Durkheim inspirierter Religionssoziologie übernommen haben. Burkert will indessen, anders als Harrison, die extreme Brutalität ausschließlich den Mythen reservieren, wobei dann dem Ritual die Aufgabe zugeteilt werden kann, »die Katastrophe der Gesellschaft zu vermeiden«, denn Burkert nimmt an, »dass der Mythos in der Phantasie zum Äußersten treibt, was durch das Ritual in harmlosere Kanäle geleitet wird«. Trotz einer solchen Akzentverschiebung im Vergleich zu Harrisons Standpunkt ist klar: Eine humanistisch beruhigende Rolle spielt die anthropologische Deutung auch hier.“

[Schlesier, Renate: Kulte, Mythen und Gelehrte. Anthropologie der Antike seit 1800. Frankfurt a. M.: Fischer Taschenbuch Verlag, 1994, S. 327]

„Der Mythos hat mit der Kunst nichts zu tun. Er ist eine Geschichte und immer dieselbe. [...] Jede Epoche hat ihre eigenen Mythenmacher, ihren eigenen Begriff vom Heiligen. Wir wollen sowohl eine »figurative« Repräsentation wie einen »orgiastischen« Genuss am Mythos als garantiert annehmen. Ebenso die intensive emotionale Teilhabe, die Freude an der Wiederholung der einzigen und beständigen Wahrheit, an den Tränen, am Lachen – und letztlich an der Katharsis. Dann können wir uns ein Publikum vorstellen, das auch befähig ist, die ästhetische Ebene zu erreichen, und das die Kunst der Variationen über ein mythisches Thema beurteilen kann – so wie es etwa gelingen kann, ein Begräbnis als »schön« zu würdigen, selbst wenn der Verstorbene eine nahe stehende Person war.“

[Eco, Umberto: Streit der Interpretationen. Konstanz: Universitätsverlag, 1987, S. 64]

„Die Entzauberung der Welt ist die Ausrottung des Animismus. Xenophanes höhnt die vielen Götter, weil sie den Menschen, ihren Erzeugern, mit allem Zufälligen und Schlechten glichen, und die jüngste Logik denunziert die geprägten Worte der Sprache als falsche Münzen, die man besser durch neutrale Spielmarken ersetzt. Die Welt wird zum Chaos und Synthesis zur Rettung. Kein Unterschied soll sein zwischen dem Totemtier, den Träumen des Geistersehers und der absoluten Idee. Auf dem Weg zur neuzeitlichen Wissenschaft leisten die Menschen auf Sinn Verzicht. Sie ersetzen den Begriff durch die Formel, Ursache durch Regel und Wahrscheinlichkeit. Die Ursache war nur der letzte philosophische Begriff, an dem wissenschaftliche Kritik sich maß, gleichsam weil er allein von den alten Ideen ihr noch sich stellte, die späteste Säkularisierung des schaffenden Prinzips. Substanz und Qualität, Tätigkeit und Leiden, Sein und Dasein zeitgemäß zu definieren, war seit Bacon ein Anliegen der Philosophie, aber die Wissenschaft kam schon ohne solche Kategorien aus. Sie waren als Idola Theatri der alten Metaphysik zurückgeblieben und schon zu ihrer Zeit Denkmale von Wesenheiten und Mächten der Vorvergangenheit. Dieser hatten Leben und Tod in den Mythen sich ausgelegt und verflochten. Die Kategorien, in denen die abendländische Philosophie ihre ewige Naturordnung bestimmte, markierten die Stellen, die einst Oknos und Persephone, Ariadne und Nereus innehatten. Die vorsokratischen Kosmologien halten den Augenblick des Übergangs fest. [...] Durch Platons Ideen werden schließlich auch die patriarchalen Götter des Olymp vom philosophischen Logos erfasst. Die Aufklärung aber erkannte im platonischen und aristotelischen Erbteil der Metaphysik die alten Mächte wieder und verfolgte den Wahrheitsanspruch der Universalien als Superstition. In der Autorität der allgemeinen Begriffe meint sie noch die Furcht vor den Dämonen zu erblicken, durch deren Abbilder die Menschen im magischen Ritual die Natur zu beeinflussen suchten. Von nun an soll die Materie endlich ohne Illusion waltender oder innewohnender Kräfte, verborgener Eigenschaften beherrscht werden. Was dem Maß von Berechenbarkeit und Nützlichkeit sich nicht fügen will, gilt der Aufklärung für verdächtig. Darf sie sich einmal ungestört von auswendiger Unterdrückung entfalten, so ist kein Halten mehr. Ihren eigenen Ideen von Menschenrecht ergeht es dabei nicht anders als den älteren Universalien. An jedem geistigen Widerstand, den sie findet, vermehrt sich bloß ihre Stärke. Das rührt daher, dass Aufklärung auch in den Mythen noch sich selbst wiedererkennt. Auf welche Mythen der Widerstand sich immer berufen mag, schon dadurch, dass sie in solchem Gegensatz zu Argumenten werden, bekennen sie sich zum Prinzip der zersetzenden Rationalität, das sie der Aufklärung vorwerfen. Aufklärung ist totalitär.“

[Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1969, S. 8-10]

„Schon der Mythos ist Aufklärung, und Aufklärung schlägt in Mythologie zurück.“

[Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1969, S. 5]

„Aber die Mythen, die der Aufklärung zum Opfer fallen, waren selbst schon deren eigenes Produkt. In den wissenschaftlichen Kalkulationen des Geschehens wird die Rechenschaft annulliert, die der Gedanke in den Mythen einmal vom Geschehen gegeben hatte. Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären.“

[Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1969, S. 11]

„Wir glauben, in diesen Fragmenten insofern zu solchen Verständnis beitragen, als wir zeigen, dass die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenen nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst.“

[Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt a. M.: Fischer, 1969, S. 3]

Symbol und Mythos

Viele moderne Theorien haben das Symbol zu strikt mit dem Mythos identifiziert. Wenn ein Mythos eine Erzählung ist, dann ist er folglich auch ein Text, und dieser Text ist – wie Bachofen gesagt hat – die Exegese eines Symbols. Betrachten wir also den Mythos als Text, nehmen wir ihn – metaphorisch gesprochen – als das alles übersteigende Beispiel jedes möglichen Textes. Ein Text ist der Ort, an dem die irreduzible Polysemie der Symbole tatsächlich reduziert wird, weil die Symbole im Kontext verankert sind. Das Mittelalter hatte recht, wenn es verlangte, dass man die Regeln kontextueller Vereindeutigungen beachten sollte, um die übertriebene Fruchtbarkeit der Symbole zu steuern.

Das Moderne Empfinden geht im Gegensatz dazu mit den Mythen um, als seien diese Makrosymbole, und obwohl es die unendliche Polysemie der Symbole anerkennt, beachtet es doch nicht mehr die Disziplin, die die Mythen denjenigen Symbolen auferlegen, die sie selbst beinhalten. So sind viele moderne Theorien unfähig zu erkennen, dass Symbole zwar paradigmatisch für unendliche Bedeutungen offen sind, syntagmatisch aber, d. h. textuell, nur offen für unbestimmte, auf keinen Fall jedoch – weil durch den Kontext reguliert – offen für unendliche Interpretationen.

Dieses Prinzip zu beachten, heißt nicht, dass man die »repressive« Idee unterstützt, nach der ein Text nur eine einzige Bedeutung hat, die von einer Interpretationsautorität garantiert wird. Vielmehr besteht jeder Akt des Interpretierens aus der Dialektik von Offenheit und Form, die sich aus der Einstellung des Interpreten und den kontextuellen Zwängen ergibt. Es ist ein Unterschied, ob man sagt: »Es gibt keine bestimmbare Wahrheit in den Texten, die wir über die Welt erarbeiten«. Das Mittelalter irrte, als es die Welt als Text verstand, die Moderne irrt, wenn sie den Text als Welt betrachtet.

Text sind menschliche Versuche, die Welt auf ein handliches Format zu bringen, das zugleich offen ist für die intersubjektive, erläuternde Rede. Wenn also Symbole in einen Text eingefügt werden, dann gibt es vielleicht keinen Weg zu bestimmen, welche der Interpretationen, die sie evozieren, als »gut« zu bezeichnen wäre. Man kann jedoch immer auf der Basis des Kontextes entscheiden, welche Interpretation nicht dem Versuch nach Verständnis »dieses« entspricht, sondern eher einer halluzinatorischen Reaktion des Adressaten.“

[Eco, Umberto: Streit der Interpretationen. Konstanz: Universitätsverlag, 1987, S. 29]

„Die griechische Sprache hält einen zweiten Ausdruck für «Wort» bereit: μθος (mythos). «Mythos» ist «Wort» gleichsam im Zustande seiner Wildheit, noch nicht ans Licht der Wahrheit gezogenes Wort oder: Fabel, die vom Ritual (in dem sie gründet) nicht abgespalten ist. «Keine Sage [kein logos]», sagt Schelling, «tönt aus jener Zeit herab, denn sie ist die Zeit des Schweigens und der Stille. Nur in göttlichen geoffenbarten Reden leuchten einzelne Blitze, welche die uralten Finsternisse zerreißen.»

Eine dem Logos fatale Macht, sobald sie die Grenzen der Ordnung seines Diskurses überschreitet, ist sie zugleich sein mütterlicher Boden, ohne dessen Berührung er kraftlos wird – wie es die Sage vom Giganten Antaios erzählt, den Herakles nur in der Luft zu töten vermag.

Der Logos kommt mithin als des Mythos eigener Logos zur Welt. Er ist von Geburt Mythologie, in einem der Tod und die Verinnerung des Mythos. Mächtig ist er als überwindendes Eingedenken seiner Abkunft. Doch ist ihm bestimmt, selbst in Gestalt des Mythos zu existieren, sobald er diesen Zusammenhang vergisst. Ich lasse zunächst dahingestellt, ob und in welchem Maße die moderne Wissenschaftsgläubigkeit dem mythischen Denken bereits sich anverwandelt hat. Statt dessen will ich einige Charaktere und Funktionen mythischer Rede benennen und muss mich, um das zu tun, einer nicht selbst mythischen, nämlich der mythologischen Rede bedienen. Das erklärt den negativen Inhalt der folgenden Definition.

Man zählt den Mythos zu den nicht-bezeichnenden, nämlich zu den symbolischen Ausdrucksformen. Im Gegensatz zum Zeichen ist das Symbol nicht eindeutig; es ist nicht kodiert und hat keinen festen Verweisungsbezug. Dan Sperber hat vorgeschlagen, es als ein ungebundenes Zeichen zu definieren, dem sein Sinn nicht aufgrund einer systematisch geregelten Beziehung von materiellem Ausdruck und intelligiblem Sinn(gehalt) zugewiesen ist, sondern zum Ausdruck in einer ursprünglichen Stiftung hinzuerfunden werden muss (Dan Sperber, Über Symbolik, Frankfurt a. M., 1975). Dieser Ausdruck mag als Zeichen welche Bedeutung auch immer innehaben: das christliche Symbol des Kreuzes z.B. besteht völlig unbeschadet der semiologischen Funktion des Zeichens «Kreuz» und ist aus ihr nicht abzuleiten. Symbolische Interpretationen können – wie das Beispiel zeigt – durchaus von rituellen Verrichtungen oder gesellschaftlichen Zeremoniells her motiviert worden sein: das Wesentliche ist (und damit ist ein Einwand gegen Lévi-Strauss formuliert, der Mythen als Zeichensysteme untersucht), dass der symbolische Vollzug den Sinn an sein zeichenhaftes Substrat magisch anbindet. Im Ritual (z.B. dem Abendmahl) deutet die sichtlich ausgeführte Bewegung nicht auf eine der Handlung äußerliche Idee, sondern ist diese Ide. Der Hut, dem Tell seine Reverenz verweigert, oder die bei Demonstrationen mitgeführte rote Fahne sind unmittelbar die Staatsgewalt bzw. deren Herausforderung, und das vermöge einer ritualisierten interpretatorischen Zusprechung, durch welche die Akteure ihre Zusammengehörigkeit befestigen. Dergleichen imaginäre Identifikationen zählen nicht unter die Möglichkeiten des gewöhnlichen Zeichnengebrauchs, in welchem die Ausdrucks- und die Sinnebene im Rahmen ihrer Beziehung immer zugleich analytische gesondert bleiben.

Was ein Zeichen – insofern es dem virtuellen System einer Sprache (langue) eingeschrieben ist – bedeutet, kann man wissen. Symbolische Zusammenhänge werden geglaubt. Symbole bleiben, selbst wenn sie verstanden werden, vieldeutig und treten nur im Übergang zum Imaginären hervor. Die Imagination aber ist eine Bewusstseinshaltung eigener Art: sie nimmt das Zeichen oder eine Kette von Zeichen zum Anlass von Sinnprojektionen, die deren gewöhnliche Bedeutung unsichtbar überlagern. Darin kommen Ritual und Dichtung überein. Beide gehen mit dem Sinn im Zustande seiner Latenz – vor oder jenseits seiner Kodierung – um.

Tatsächlich ist jedoch diese strenge Abgrenzung von Zeichen und Symbol eine künstliche Abstraktion. Denn ein Zeichensystem bleibt – wie jeder Apparat von Handlungsanweisungen und Rezepten – stumm, wenn es nicht interpretiert wird. Auffälligerweise entspricht ja der Spielregel als solcher kein einziger Zug im Spiel selbst. Vor allem darum, weil die Zeichen (wie Ch. S. Peirce gezeigt hat), um unter einer bestimmten Hinsicht auf Objekte sich beziehen zu können, eines Kommentars oder einer Interpretation bedürfen, die sich nicht als Ergebnis einer einfachen Deduktion aus ihrer Grammatik begreifen lässt. Deduktionen lassen sich grundsätzlich nur im gleichgearteten Feld der Struktur (dessen, was Peirce idea oder object nennt) und nicht des angewandten Zeichens (des interpretierten representamen) geben. Die struktural-horizontale Beziehung des Zeichens zu allen anderen Zeichen und zu ihren Objekten wird von einer weiteren, gleichsam vertikalen Beziehung gekreuzt: der der Zeichen zu ihren Benützern. Das Zeichensystem funktioniert auf der Ebene des gesprochenen Worts nur, wenn eine Interpretationsgemeinschaft seinen Verwendungssinn zuvor festgelegt, d.h. das Abbildungsverhältnis zwischen den kodierten Zeichen und ihren Gegenständen von Grund auf hervorgebracht hat, um es im Lauf der Geschichte permanent neu festzusetzen. Auf diese Weise bleibt – um eine These darauf zu pfropfen – der abendländische Logos, z.B. in der Gestalt der Semiologie, rückgebunden an symbolische Handlungen und axiomatische Entscheidungen, die von der Ebene der sozialen Interaktion ihren Ursprung nehmen und die ich in einer ersten Annäherung als mythisch bezeichnen möchte. In diesem Sinne wäre der Mythos nicht das Gegenteil, sondern die Kontrolle des analytischen Logos im Namen einer Totalität.

Mythen teilen ja mit Sprachen zunächst die Eigenschaft, soziale (und mithin synthetische) Gebilde zu sein; es ist ebenso widersinnig, sie als Privat-Veranstaltungen zu denken, wie die Idee einer Privatsprache widersinnig ist. Sie haben überdies – und das unterscheidet sie von reinen Grammatiken – heuristische oder Modell-Funktion: sie teilen mit Metaphern und wissenschaftlichen Modellen die Eigenschaft, Paradigmata oder Vorschläge zu einer allgemeinen und systematischen Weltdeutung an die Hand zu geben. Was sie von wissenschaftlichen Modellen unterscheidet, ist nicht ihre Un- oder Vorwissenschaftlichkeit (das wäre eine tautologische Behauptung), sondern die Tatsache, dass sie mit der Einsetzung von Axiomen zu tun haben, die im Bereich der analytischen Wissenschaften unbefragte und unhinterfragbare «Urevidenzen» bleiben müssen. Mythen sind ferner narrative Formen, in denen Deutungen von gesellschaftlichen Ritualen gegeben werden, ohne dass diese Formulierung eine unumkehrbare Zeitfolge zwischen Ritus und Mythos behaupten möchte.”

[Frank, Manfred: “Die Dichtung als «Neue Mythologie» - Begriff und Bild einer Rekonstruktion”. In: Bohrer, Karl Heinz (Hg.): Mythos und Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1983, S 17–20]

Die Mythologie in den Formen unserer Sprache

In den alten Riten haben wir den Gebrauch einer äußerst ausgebildeten Gebärdesprache. Und wenn ich Frazer lese, so möchte ich auf Schritt und Tritt sagen: Alle diese Prozesse, diese Wandlungen der Bedeutung, haben wir noch in unserer Wortsprache vor uns. Wenn das, was sich in der letzten Garbe verbirg, der «Kernwolf» genannt wird, aber auch diese Garbe selbst, und auch der Mann der sie bindet, so erkennen wir hierin einen uns wohlbekannten sprachlichen Vorgang.

Der Sündenbock, auf den man seine Sünde legt und der damit in die Wüste hinausläuft – ein falsches Bild, ähnlich denen, die die philosophischen Irrtümer verursachen.

Ich möchte sagen: nichts zeigt unsere Verwandtschaft mit jenen Wilden, als dass Frazer ein ihm und uns so geläufiges Wort wie «ghost» oder «shade» bei der Hand hat, um die Ansichten dieser Leute zu beschreiben.

(Das ist ja doch etwas anderes, als wenn er etwa beschriebe, die Wilden bildeten //bilden// sich ein, dass ihnen ihr Kopf herunterfällt, wenn sie einen Feind erschlagen haben. Hier hätte unsere Beschreibung nichts Abergläubisches oder Magisches an sich.)

Ja, dies Sonderbarkeit bezieht sich nicht nur auf die Ausdrücke «ghost» und «shade», und es wird viel zu wenig Aufhebens davon gemacht, dass wir das Wort «Seele», «Geist» («sprit») zu unserem eigenen gebildeten Vokabular zählen. Dagegen ist es eine Kleinigkeit, dass wir nicht glauben, dass unsere Seele isst und trinkt.

In unserer Sprache ist eine ganze Mythologie niedergelegt. [...]

Die primitiven Formen unserer Sprache: Substantiv, Eigenschaftswort und Tätigkeitswort zeigen das einfache Bild, auf dessen Form sie alles zu bringen sucht. [...]

Die Gefahr beginnt, wenn wir merken, dass das alte Modell nicht genügt, es nun aber nicht ändern, sondern nur gleichsam sublimieren. Solange ich sage, der Gedanke ist in meinen Kopf, ist alles in Ordnung; gefährlich wird es, wenn wir sagen, der Gedanke ist nicht in meinem Kopfe, aber in meinem Geist.”

[Kenny, Anthony: Ludwig Wittgenstein. Ein Reader. Stuttgart: Reclam, 1989, S. 336-338]

Vernunft und Mythos – der Akzent liegt hier auf dem und: kein additives, kein polarisierendes, kein balancierendes und erst recht kein identifizierendes Und, sondern eines der methodischen, weil sachlichen Provokation. Wer Vernunft sagt, darf nicht zurückschrecken vor der Dimension des Mythos – nicht sie liegenlassen, erst recht nicht sie wegerklären –, sondern muss nach den Bedürfnissen fragen, die heute vielfach erst mit den Figuren dieser Dimension, weil schon in ihr blockiert, zu reden beginnen. Das gesellschaftliche Naturverhältnis, das wir sind (und das der Mythos nicht verschweigt), verlang nach Aufklärung bis heute. Und: wer Mythos sagt, darf nicht glauben, dass er damit Zugang findet zu einem gattunsgeschichtlich solideren Fundament – aktuelle Konflikte, nicht deren Lösung, bietet die Mythologie; dazu nicht nur Verdrängtes – das allerdings, so wie in modernen Opferritualen und der Faszination, die von ihnen ausgeht, triumphierend wiederkehrt –, sondern Einsicht in die Verdrängungsprozesse selbst. Also, sich mit der Vernunft auch des Mythos verbünden gegen einen remythologisierenden Vernunftgebrauch: dies, in kürzester Formulierung, die Aktualität unseres Themas.

Angesichts der Remythologisierungsbestrebungen heute und ihrer Faszination (ein Fundament zu haben, so alt wie die Natur selbst, das einen zum Komplizen des Schicksals macht und so noch die Selbstverstörungsprozesse als Naturprozesse erfahren lässt), mag es gerechtfertigt sein, ein paar ältere Texte hervorzuholen und nachzuforschen, was sich in diesem Zeitraum verändert hat: vom restaurativen Nachkriegsdeutschland seinerzeit zu dem heute. [...]

Nach den die praktisch-sinnliche Wirklichkeit überfliegenden Abstraktionen der Zeit des studentischen Aufbegehrens sind wir neuerlich in eine Form des – nun freilich selbst abstrakten – Konkretismus eingetreten: der zufolge die Wirklichkeit, die über uns zusammenschlägt, die Wirklichkeit ist; und wie gewahren schreckt, wie sie einerseits Sekten hervorbringt, die sich dem abstrakten Geist konkret verschreiben, bis hin zur Selbstzerstörung von Körper und Geist, und andererseits konkrete Lösungen empfiehlt, die gerade Selbstzerstörung, weil so real, zu einem abstrakt kalkulierbaren Risiko machen; und dass diese neue Form des Konkretismus (einmal Horkheimers und Adornos Wort) unterirdisch ein Band ist, das die Generationen eint. Möge nicht gerade dieses Bündnis von Dauer sein, mögen gerade diese älteren Texte es stören helfen.“

[Heinrich, Klaus: “Nachwort” (1983), in: ders. Vernunft und Mythos. Ausgewählte Texte. Frankfurt a. M.: Fischer TV, 1983, S. 108-109]

“[Klaus] Heinrich erkennt in dem mythologischen Erzählungen ungemein realistische Darstellungen von bislang unausgestandenem Konfliktstoff, den die Gattung mit sich schleppt; – eine Art Affektspur durch die Geschichte: in jeder neuen Bearbeitung ein Ausdruck von ganz realem Wiederholungszwang, zugleich aber auch den ständig scheiternden Versuch, diesen Bann zu brechen, über den Konflikt hinauszugelangen. Immer auch erzählen diese Geschichten von den Verdrängungen, die diese Lösungsversuche begleiten und erinnern damit das Gattungswesen Mensch eindringlich an den Aufklärungsbedarf seiner Triebgeschichte.”

[Jörg Döring, SFB. Rezension: Heinrich, Klaus: Dahlemer Vorlesungen 3: arbeiten mit Ödipus. Begriff der Verdrängung in der Religionswissenschaft. Frankfurt a.M.: Stroemfeld/Roter Stern, 1993]

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Mythos (griech., Sage)

Ursprünglich eine altüberlieferte Erzählung (Mythe), die in bildhaft-anschaulicher Sprache ein urzeitliches Ereignis vergegenwärtigt (Weltschöpfungs-, Götter-, Helden-, Heilbringersage usw.), dann die Gesamtheit der Mythen eines Volkes, in denen der Mensch (bes. in der Frühgeschichte, bei den Naturvölkern, aber auch noch in den alten Hochkulturen) sich selbst, die Gemeinschaft u. das Geschehen in der Welt sinnfällig-bildhaft im Symbol deutete.

Natur- und Lebensvorgänge erhalten im Mythos Sinn und werden verstanden von dem her, was in der «Urzeit» immer schon da war und als göttliches Geschehen sich ereignete, im Mythos erinnert und in Kult bzw. Magie ausdrücklich und mit normativer Bedeutung für das tägliche Leben in der Wirklichkeit nachvollzogen wird. Der Mythos ist so eine Form der Religion, und zwar jenes Weltverhältnisses, in welchem der Mensch dem Seienden nicht in freier Distanz begrifflich-rationaler Erkenntnis und des ihr gemäßen Kausalitätsbewussten Handelns gegenübertritt, vielmehr, übermächtig bedrängt, alle Dinge und Vorgänge nur als Erscheinungen übermächtiger Wesen und Ereignisse zu verstehen vermag und diese in der antwortend-beschwörenden Weise von Kult und Magie zu bestehen sucht. Die verbindliche und sinngebende Kraft des Mythos schwindet im Verlauf der Geschichte mit dem Durchbruch der geistig-reflexiven Haltung des Menschen; doch bleibt er auch dann noch die bildhafte Artikulation einer Erfahrung an der Grenze des Sagbaren und Begreifbaren (vgl. die platon. Mythen).

Der Versuch, die Religion von der myth. Sprache zu «reinigen» («Entmythologisierung»), steht in der Gefahr, den Bezug zum Mysterium überhaupt zu verlieren (dies gilt insoweit auch für den christlichen Glauben, der jedoch den Mythos zugleich als aufgehoben erkennt in der Geschichtlichkeit der Offenbarung). Anderseits muss der Versuch, durch eine bewusst bildhafte Deutung der Welt dem bereits mythenlosen, aufgeklärten Denken einen neuen «mythischen» Sinn mit aller Verbindlichkeit entgegenzusetzen, scheitert, weil die gewollte Wiederherstellung des ursprünglichen Mythos in einer nachmythischen Zeit unmöglich ist.

Die wissenschaftliche Erforschung, Darstellung und Begründung des Mythos und seiner Geschichte ist die Mythologie. Während dort, wo der mythologischen Forschung die psychologisierende Einstellung zugrunde liegt, der Mythos als Personifizierung seelischer Zustände (W. Wundt), als Symbolisierung unterbewusster Triebvorgänge (S. Freud) oder Äußerung inner-psychischer Urbilder (C.G. Jung) verstanden wird, sieht die von der Phänomenologie beeinflusste Mythologie im Mythos die Gestaltungen einer ursprünglichen Erfahrung des Heiligen (R. Otto, L. Ziegler) und so den Mythos in seiner Zuordnung zum Kult (W. F. Otto, A. E. Jensen, z. T. auch K. Kerényi).”

[Müller, Max / Halder, Alois: Philosophisches Wörterbuch. Freiburg / Basel / Wien: Herder, 1988, S. 200-201]

„Hegel hat für das Epos eine unübertreffliche Definition gefunden, in der er das Wesentliche, Spezifische dieser Gattung erfasste:

Das Epos aber fordert noch jene unmittelbare Einheit von Empfindungen und Handlung, inneren konsequent sich durchführenden Zwecken und äußeren Zufällen und Begebenheiten; eine Einheit, welche in ihrer ununterschiedenen Ursprünglichkeit nur in ersten Perioden des nationalen Lebens wie der Poesie vorhanden ist. (Hegel: Ästhetik, Berlin, 1955, S. 942)

Wir sind der Meinung, dass der Mythos, auch wenn er nicht die anspruchsvolle Komposition einer Epopöe aufweist, dennoch die ursprüngliche Form des Epos ist. Wenn die Mythen der Völker, die auf der untersten Stufe der sozialen Entwicklung stehen, auf Symbole reduzierbar wären, könnte man sie nicht als Anfänge der Epik ansehen. Die Tiere, die halbmenschlichen Totem-Ahnen, die Kulturhelden wie auch die Dämonen oder Götter erscheinen im Mythos als konkrete Personen, die von Trieben und Absichten beseelt sind. Miteinander verbunden, bilden die mythischen Episoden einheitliche Zyklen, die hinsichtlich der literarischen Komposition nicht tiefer stehen als die Balladen und epischen Gesänge, aus denen die Epopöen sich zusammensetzen.”

[Gulian, C. I.: Mythos und Kultur. Zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 106]

„Die subtilen Unterscheidungen, die heute von den Volkskundlern zwischen Mythos, Sage und Märchen gemacht werden, haben ihren theoretischen Wert für die Klärung der Bedeutung des Mythos. Jan de Vries zeigt, dass jene, die sich mit den Unterschieden zwischen den drei Folklore-Gattungen beschäftigt haben, schließlich feststellen mussten, dass in Mythen, Heldensagen und Märchen die gleichen Motive vorkommen. De Vries meint mit Recht, dass die Motive an sich nicht allzu viel bedeuten, da sie als Elemente betrachtet werden müssen, die für verschiedene Zwecke verwendbar sind. Darum hält er die Unterschiede zwischen den Gattungen für das wesentliche Problem. Es ist weniger wichtig, herauszufinden, woher ein Motiv kommt, als zu untersuchen, wie es in den Mythos, in das Märchen oder in die Heldensage eingegliedert ist.“

[Gulian, C. I.: Mythos und Kultur. Zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 107]

„Die Schlussfolgerung, die Jan de Vries zieht – und die mit den Feststellungen von Stith Thompson übereinstimmt –, geht dahin, dass man zwischen den Gattungen der Folklore keine feste Grenze ziehen kann und dass höchstwahrscheinlich der Mythos dem Märchen zeitlich vorangegangen ist. Wie Jan de Vries und Mircea Eliade zeigen, hat der Mythos sich im Lauf seiner Entwicklung säkularisiert und ist dem ständigen Druck gesellschaftlicher Probleme, denen er nicht genügen konnte, erlegen. Das Märchen hat den gleichen Inhalt, die gleichen Elemente wie der Mythos, aber es zeigt «eine radikale Lostrennung von der Welt der Numinosen».

In seinem Bestreben, den Sinn des Mythos, der Sage und des Märchens voneinander abzugrenzen, verweist Jan de Vries auf den spielhaft-künstlerischen Charakter des Märchens, das seiner Ansicht nach keine spontane, sondern eine elaborierte Form ist.

Jan de Vries charakterisiert den Mythos als eine Aussage von ernsthafter Bedeutung, als «Antwort auf die Problematik des Daseins», eine höchst tiefsinnige Definition, auf deren Wichtigkeit wir bereits hingewiesen haben; sie eröffnet, wie wir meinen, weitere Perspektiven der Deutung des Mythos als Kulturphänomen. Die Saga (Heldensage) steht dem Mythos näher; sie erscheint de Vries als Verkörperung des Tragischen. Der Held der Saga endet immer tragisch, während für das Märchen der Optimismus, das klassische happy end typisch ist. Daher stellt Jan de Vries sich die Frage: Wie sah die soziale und geistige Umwelt aus, in der das Märchen entstand, zu einer Zeig, als das Gefühl des Tragischen noch nicht aufgetaucht war? Der holländische Forscher neigt zur Meinung, dass diese Phase der Kulturgeschichte durch die Welt Homers, die Welt der griechischen Aristokratie, repräsentiert wird, in anderen Kulturen hingegen durch analoge Umstände oder Situationen, als der Mensch begann, sich vom Mythos loszulösen. Dies würde bedeuten, dass die optimistische Einstellung zur Welt der Aristokratie vorbehalten war. Demnach war der Mythos die älteste Gattung, der später die Saga und das Märchen folgten.

Dennoch sind in den Sammlungen der Ethnologen, wie auch Mircea Eliade mit Recht bemerkt, die Mythen nicht von den Märchen getrennt, oder «was bei dem einen Stamm den Rang eines Mythos hat, ist vielleicht bei einem benachbarten Stamm nur ein Märchen». Warum aber wird diese folkloristische Realität, diese fließende Grenze zwischen Mythos und Märchen, nur als Ausdruck der Säkularisierung und nicht als Ausdruck einer Koexistenz der Einstellungen zur Welt angesehen?”

[Gulian, C. I.: Mythos und Kultur. Zur Entwicklungsgeschichte des Denkens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981, S. 109-110]

Rötzer: Besonders in Deutschland hat sich seit der Romantik eine Vernunftkritik ausgebildet, die – um mit Habermas zu sagen – eine Theorie der Rationalität durch eine Philosophie ersetzen wollte, die in der Kunst das Organon der Wahrheit als freie Versöhnung erblickte. Das reicht bis zu Heidegger und seinem Opponenten Adorno. Sehen Sie in diesem Programm der Ästhetisierung der Ideen oder der Mythologisierung der Vernunft eine sinnvolle Umorientierung, oder ist die Vernunftkritik selbst wieder in prinzipieller Weise befangen?

Marquard: Am romantischen Programm und seinen Fortsetzern ist einiges Bemerkenswerte. Zunächst ist der Aufbruch ins Ästhetische, auch der Aufbruch ins Mythische, wieder als kompensatorisches Phänomen zu sehen und als Kritik von Einseitigkeiten oder Reduktionismen innerhalb der dominierenden Rationalität. Ich würde ungern dem Ästhetischen und dem Mythologischen das Vernünftige absprechen. Ich will eine vernünftige Mythologie und eine vernünftige Ästhetik haben. Und dem Programm, dass wir eine Mythologie der Vernunft brauchen, sollte man vielleicht entgegensetzen, dass wir eine Vernunft des Mythologischen brauchen. Mir scheint es so zu sein, dass die Mythologie dann schlimm ist, wenn sie auf einen einzigen Allein-Mythos hinausläuft, die Mythologie aber in dem Augenblick dienlich und vernünftig wird, indem sie polymythisch verfährt, also viele Mythen zulässt. Das ist wieder das Plädoyer für die Buntheit. Diese Art von Buntheit im Mythologischen, und das heißt für mich in den Geschichten, in dem, was man im menschlichen Leben erzählen muss, verbinde ich mit der Vernünftigkeit. Wir brauchen auch so etwas wie eine erzählende Vernunft, die vielleicht lebensweltlich sogar primär ist, wir brauchen, um darauf noch einmal zurückzukommen, eine merkende Vernunft. Man kann das griechische Wort aisthesis im Deutschen mit Merken übersetzen. Dieses Element des Merkens scheint mir etwas zu sein, was eminent zur Vernunft gehört. Ich bin für das Ästhetische dann, wenn es sich um eine Pflege oder Kultur der merkenden Vernunft handelt. Die Gefahren der Ästhetisierung, die sicher bestehen, sehe ich dort, wo das Ästhetische sich aufmacht zum Alleinkunstwerk, wo also die gesamte Wirklichkeit zum Kunstwerk stilisiert werden soll, zum Gesamtkunstwerk. Der Hang zum Gesamtkunstwerk ist das eigentliche Problematische an den modernen Ästhetisierungen.”

[Rötzer, Florian (Hg.): Denken, das an der zeit ist. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 1987, S. 197-198]

«Die Funktion der Genealogie im Mythos

Mythos ist ein viel verwendetes und viel missbrauchtes Wort. Ich möchte darum von der nächstliegenden Bedeutung des Wortes ausgehen: Mythos als Göttergeschichte. Der Mythologe erzählt – so hat es Platon einmal beiläufig formuliert – »von den Göttern, den Dämonen, den Heroen und den unterweltlichen Wesen«. Aber das Wort bezeichnet nicht nur einen Stoff, sondern zugleich eine besondere Geisteslage: die, in der jene Erzählungen ein unbedingtes, d. h. religiöses Interesse finden. Wenn wir nach dem Grund dieses Interesses fragen, so fragen wir nach der besonderen Qualität, die die Gestalten und Lokalitäten und überhaupt alle Geschehnisse in jenen Erzählungen besitzen. Es ist das die Qualität des Ursprungs. Sie haben nicht nur jene allgemeine Mächtigkeit, wie sie jedes in menschlicher Rede beschworene Stück der Wirklichkeit hat, sondern sie sind Träger einer unbedingten Mächtigkeit, der Mächtigkeit des Ursprungs. Der Erzählende ebenso wie der Hörende partizipieren an Ur-Gestalten, Ur-Lokalitäten und Ur-Geschehnissen. Die Mächte des Mythos sind – mit dem Wort, das Paul Tillich einmal dafür vorgeschlagen hat – Ursprungsmächte.

Diese ihre Ursprungs-Qualität ist immer gesehen und beschrieben worden, wo die Eigenart der mythischen Geisteslage gesehen und beschrieben worden ist, zuletzt und am eindringlichsten von Walter F. Otto, Karl Kerenyi und Mircea Eliade. Aber ich darf mich jetzt nicht mit diesen Beschreibungen aufhalten, sondern muss das Problem definieren, das jede Beschreibung der mythischen Mächte als Ursprungsmächte stellt: wie hat das von den Ursprüngen räumlich, zeitlich und wesensmäßig Entfernte dennoch an den Ursprüngen teil? wie das dem Ursprung Entspringengende dennoch an der unbedingten Macht des Ursprungs? Mit dieser Frage bin ich bei meinem Thema, denn auf sie antwortet die Genealogie. Die Funktion der Genealogie im Mythos ist es, die Macht der heiligen Ursprünge zu übertragen auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete.

Die profane Wirklichkeit, in der auch die Menschen in einer mythischen Geisteslage leben, kann nur dann »geheiligt« und als dauerhaft erfahren werden, wenn sie – um jetzt auch Begriffe Kerenyis und Eliades zu verwenden a – in einer Urwirklichkeit »gründet«. Das ist »jene« Wirklichkeit, die im Mythos erzählt und im Kultus als dem dargestellten Mythos vergegenwärtigt wird. Und der Mythologe »begründet«, indem er diese seine Wirklichkeit von »jener«, dieses sein Geschlecht von »jenem«, diese seine Zeit von »jener« ableitet, d. h. – in dem weitesten Sinne, den wir dem Begriff an dieser Stelle geben wollen – genealogisiert.

Die Funktion der Genealogie im Mythos ist die zentrale Funktion des Mythos. Wenn wir die Funktion der Genealogie näher bestimmen, so müssen wir die Konflikte bezeichnen, denen sie entspringt, und danach den Preis, den der Genealogisierende für die Lösung seiner Konflikte entrichtet.

Zunächst: es ist nicht überflüssig, sich klarzumachen, dass der Genealogisierende nicht bloß ein intellektuelles Bedürfnis befriedigt. Auch wir spüren noch etwas davon. Die Entfernung vom Ursprung, das Losgerissensein etwa vom heimatlichen Boden oder dem mütterlichen Schoß der Familie oder dem väterlichen Schutz, den die größere soziale Gruppe des Stammes oder der Nation gewährt; das Auf-Sich-Gestelltsein in der Führung des eigenen Lebens; schon das Fehlen urbildlicher Modelle beim handwerklichen Eingriff in eine übermächtige Natur – das alles kann eine Quelle tiefer Angst bedeuten, und die genealogische Überbrückung des Bruchs zwischen dem Ursprung und allem, was dem Ursprung entspringt, kann sehr wohl die Qualität einer Heilsantwort haben. Die genealogische Rückbindung an den Ursprung antwortet auf die Leben zerstörende Bedrohung, mit nichts identisch zu sein. Indem sie Selbst und Welt von göttlichen Urgestalten, Urformen, Urgeschehnissen herleitet, nimmt sie die Angst vor dieser Bedrohung. Ich brauche vielleicht nur daran zu erinnern, eine wie große Rolle in den Stammesreligionen, die sämtlich der ursprungsmythischen Geisteslage zugehören, der Ahnenkult und im Zusammenhang damit der Erwerb der vollen »Identität« durch Initiationszeremonien allgemeiner Art oder durch den rituellen Erwerb individueller Persönlichkeitskonstituentien spielen. Die so mannigfachen Erscheinungsformen, die wir unter dem Begriff des Totemismus zusammenfassen, kommen darin überein, dass sie dem von einer vielgestaltigen oder gestaltzerstörenden Natur Bedrohten den Schutz der Identität gewähren.

Aber dieser Schutz wird unter großen Mühen erworben, und er wird um einen hohen Preis erkauft. Ununterbrochen muss sich der Mensch in einer ursprungsmythischen Geisteslage, mit kultischen Veranstaltungen und Opfern jeder Art, seiner Herkunft versichern. Denn der Bruch zwischen ihm und den heiligen Mächten des Ursprungs läßt sich nicht ungeschehen machen, und es gehört zur Dialektik des Ursprungsdenkens, dass die gleichen Veranstaltungen, die den Bruch überbrücken sollen, den Bruch sichtbar machen.'

Unter diesem Gesichtspunkt eröffnet sich ein fast unbegrenztes Feld systematisch fundierter religionsgeschichtlicher Forschung: von jenen Verkörperungen der genealogischen Überbrückung an, deren Funktion es ist, den Bruch selbst und damit zugleich das tragische Scheitern seiner Überbrückung darzustellen – also, um nur ein Beispiel zu nennen, dem Leiden und dem Sterben der Heroen –, bis hin zu jenen Maßnahmen ritueller Art, die den Bruch wider besseres Wissen verbergen sollen. Um wieder nur ein Beispiel zu nennen, erinnere ich an die Tabus, mit denen in den kultischen Zeremonien der Naturvölker jene unsicheren Sphären umgeben sind, die die Gebrochenheit des Ursprungs hervortreten lassen: etwa die Einkleidung der Kulttänzer vor der Darstellung der Ahnenrolle oder die dem Einblick der Stammesangehörigen entzogene Verfertigung rituellen Geräts, das das aus der heiligen Zeit überkommene in periodischen Abständen immer wieder ersetzen muss.

Eine systematische Darstellung dieser Verhältnisse hätte auszugehen von der Dialektik des Entspringens, in der die Doppeldeutigkeit des Ursprungs sichtbar wird. Sie wird besonders deutlich sichtbar dort, wo es sich um die genealogische Funktion im engeren Sinne handelt, nämlich um die Herleitung animalischer Ursprungsmacht durch die Vermittlung der Geschlechterkette.

Dem Ursprung Entspringen bedeutet einerseits Herkommen vom Ursprung, die Macht des Ursprungs Weitertragen. Es bedeutet andererseits Sichlösen vom Ursprung, dem Ursprung Entronnensein. Der Entrinnende erwirbt gegenüber dem Ursprung die Selbständigkeit – bis hin zu Angst und Ohnmacht des Alleingelassenseins von dem ihn tragenden Ursprung. Und Verlust der Selbständigkeit ist umgekehrt der Preis, der für jedes Beharren im Ursprung zu entrichten ist – bis hin zur Opferung des Selbst an den es verschlingenden Ursprung.

Dieses Beharren – so lernen wir aus den Kulten der Völker – ist essentiell das Festhalten an immer der gleichen Substanz bis zu deren völliger Entleerung; es ist räumlich das Festgebundensein an immer die gleichen uralt-heiligen Orte oder Bereiche des Lebens oder auch Stände in der Gesellschaft bis zu deren Fanatismus produzierender Erstarrung; und es ist zeitlich die ebenso zwanghafte wie zwang begründende Wiederholung des immergleichen Rituals in allem Tun.

Aber alle derartigen Veranstaltungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass Entspringen immer Entfernung vom Ursprung bedeutet und dass Ursprungsnähe ein nur für Zeit und oft nur mit Mühe zu erreichender Zustand ist. Solche Entfernung, ausgedrückt in der Sprache der Herleitung von den animalischen Ursprüngen, also der genealogischen Funktion im engeren Sinne, bedeutet Verfall, Niedergang, Degeneration. Und die Welt der degenerierenden Geschlechter ist, gegenüber der des Ursprungs, eine mindere Welt, d. h. schließlich – mit dem Wort, das manche »ursprungsnahen« Soziologen oder Anthropologen heute gern verwenden – eine Ersatzwelt.

Degeneration und Ersatzwelt – das sind zwei fundamental wichtige Begriffe zur Bezeichnung der negativen Aspekte des Weltverständnisses in einer ursprungsmythischen Geisteslage. Ich komme später noch auf die Verwendung derartiger Begriffe zurück. Hier möchte ich nur festhalten, dass in den Mythologien der Völker beide Seiten der Entfernung vom Ursprung zugleich gesehen werden: einerseits das Selbständigwerden gegenüber dem Ursprung in einer Kette von Revolutionen des jeweils jüngeren gegen das jeweils ältere Göttergeschlecht, etwa in der griechischen Mythologie von der Gaia-Uranos-Welt über die Kronos-Welt bis hin zur Zeus-Welt; und andererseits die Minderung der Ursprungsmacht in einer Kette von Degenerationen, etwa im Mythos von den aufeinanderfolgenden degenerierenden Weltgeschlechtern oder Weltzeitaltern.' Ein und derselbe Mythologe kann beides unverbunden nebeneinanderstellen, so Hesiod den Mythos von der Revolutionenkette in der »Theogonie« neben den Mythos von der Degenerationenfolge in den »Werken und Tagen«. Das ist kein wesensmäßiger Widerspruch, sondern ein Ausdruck für die Doppeldeutigkeit der Entfernung vom Ursprung in einer ursprungsmythischen Geisteslage.

Ich gebe zum Abschluss dieser Erörterung ein Beispiel, das die genannten Züge zusammenfasst: die Interpretation des Totemismus durch Sigmund Freud.' Unbeschadet der Frage, wieweit diese Interpretation die Phänomene des Totemismus deckt, ist sie in ihrer wissenschaftlichen Form zugleich ein beachtenswerter, halb mythischer, halb symbolischer Ausdruck für die Dialektik des Entspringens. Freud interpretiert die totemistischen Feste, an denen das sonst tabuierte Totemtier rituell verzehrt wird, als die Erinnerung an den Urvatermord. Die Vereinigung mit dem eigenen Ursprung – das Verzehren des Totemtiers – offenbart zugleich den Bruch mit dem Ursprung – den Mord am Urvater. Und das Schuldbewusstsein der Brüderhorde schafft dem Ermordeten ein gespenstisches Nachleben. Das unbewusste Über-Ich ist der von Freud vorgeschlagene Ausdruck für das Weiterwirken der zwanghaft bindenden Macht des Ursprungs auch nach dem Bruch mit einer ursprungsmythischen Geisteslage. [...]

Meine These war: es ist die Funktion der Genealogie im Mythos, den Bruch zu überbrücken zwischen dem Ursprung und allem, was dem Ursprung entspringt, die Macht der heiligen Ursprünge zu übertragen auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete. Diese These wird aktuell in ihrer methodischen Umkehrung. Wir können sagen: überall, wo wir auf die eben beschriebene Funktion der Genealogie stoßen, ist ursprungsmythisches Denken in Herrschaft. Überall dort stoßen wir, in den großen Religionen ebenso wie in deren Transformationen in ein »profanes« Denken, auf Reste der ursprungsmythischen Geisteslage oder auf einen Rückfall in sie.

Ich gebe zunächst Beispiele aus der Religionsgeschichte. Die Rolle der genealogischen Funktion kann sofort erkennbar und darum vergleichsweise harmlos sein, so wie im Islam die Herleitung der Prophetenworte durch die genealogische Kette der von Gewährsmann zu Gewährsmann getragenen und durch die Generationenfolge beglaubigten Hadithe. Hier ragen Reste ursprungsmythischen Denkens in eine prophetische Religion hinein. Die genealogische Funktion kann als bedrohlich erkannt, sie kann ein Gegenstand heftiger dogmatischer Kämpfe sein. So kämpft das trinitarische Dogma im Zentrum der christlichen Religion gegen eine genealogisierende Herleitung des Sohnes vom Vater, die aus dem Christus einen Abkömmling Gottes, also einen Heros machen würde. Es kämpft gegen den Rückfall in ein ursprungsmythisches Denken. Die genealogische Funktion kann eine fast allen Religionen gemeinsame Erscheinung sein, in der sie auf einer ursprungsmythischen Geisteslage beharren. Ich denke an das genealogisierende Festhalten am ursprünglich heiligen Wort in der ursprünglich heiligen Sprache, in der es einmal den Menschen gegeben ist, an die Verpönung jeder Abweichung vom Wortlaut oder auch nur der Rezitiergewohnheit. So bleibt die schon lange nicht mehr verstandene, aber von Generation zu Generation weitervererbte Formel – als Zauberformel – ein Unterpfand für die Bewahrung heiliger Ursprungsmacht. Aber nicht minder wichtig ist die Erkenntnis des Rückfalls oder des Beharrens auf einer ursprungsmythischen Geisteslage in der Profanität – auch dann, wenn diese sich weit von jedem »religiösen« Ursprung entfernt glaubt. Ich beschränke mich darauf, drei Beispiele zu geben, in denen die Funktion der Genealogie im Mythos sichtbar wird: eines der scheinbar unpolitischen Theorie; eines der scheinbar unreflektierten politischen Praxis; und eines der therapeutischen Psychologie, die heute im Blickpunkt religionswissenschaftlicher Erörterungen steht, also einer Theorie im Blick auf eine therapiebedürftige Praxis. In allen drei Fällen beschränke ich mich ausdrücklich darauf, die ein ursprungsmythisches Denken indizierende Funktion der Genealogie sichtbar zu machen. [...]

Ich habe ausdrücklich von der Funktion der Genealogie »im Mythos« gesprochen, und ich habe »Mythos« definiert einerseits als Stoff – nämlich als Göttergeschichte, d. i. die Geschichte erstarren machende Geschichte einer Urwirklichkeit – und andererseits als eine besondere Geisteslage, nämlich als das unbedingte, d. i. religiöse Ergriffensein von deren Mächten. Aber Mythos – in einem dritten, universalen Sinn – kann auch ein Moment in jeder menschlichen Rede bezeichnen: dass sie geeignet ist, zugleich mit dem begrenzten Stück der Wirklichkeit, das sie benennt, die Tiefendimension der Wirklichkeit hervortreten zu lassen. Und auch genealogisches Fragen geht nicht auf in der von mir geschilderten ursprungsmythischen Situation. Es kann die ursprungsmythische Begrenzung sprengen und tut das jederzeit.

Die Frage nach dem Ursprung des personhaften und welthaften Seins: woher komme ich? was gibt mir und dieser Welt das Leben? ist eine Frage, die jeder Mensch stellt und die in jeder Religion beantwortet wird. Im Blick auf diese Frage ist die ursprungsmythische Antwort nur eine Antwort neben anderen. Dass sie hier distanziert und kritisch behandelt werden konnte, verweist auf eine andere religionsgeschichtliche Tradition: die Tradition des Protestes gegen ein ursprungsmythisches Denken. Für sie sind »Ursprung« nicht die uralt-heiligen Mächte, anschaubar in ewigen Aspekten der Natur oder einer nach Naturvorbildern begriffenen Gesellschaft, sondern »Ursprung« ist der schöpferische Prozess der Wirklichkeit, der sich mit immer wieder neu gesetzten Zielen offenbart.

In dieser Tradition – einer gleichfalls sehr alten, die in unserer Geschichte bis in die profanen Formen der Aufklärung hinein als das Element des Prophetismus gegenwärtig ist – haben Philosophen und Mythologen den Stoff des Ursprungsmythos aus seiner genealogischen Bindung an eine ursprungsmythische Geisteslage gelöst. Sie haben seine Macht gebrochen, aber nicht zerbrochen." Es ist darum kein Widerspruch, wenn auch der entmythologisierende Protest gegen eine ursprungsmythische Geisteslage in mythischen Bildern vorgetragen wird. So sah ein Mann wie Francis Bacon in den Gestalten des Mythos nicht mehr die Urbilder der Wirklichkeit, denen es sich blindlings anzuvertrauen und zu unterwerfen galt, sondern frühe Vorbilder eines partiellen Gelingens auf dem Weg zu Zielen, die auch ihn selbst bewegten. Er gewann die Stoffe der Mythologie, indem er deren Herrschaft allegorisierend brach, zu Bundesgenossen im Kampf gegen den Ursprungsmythos. Sein Fragen nach dem schöpferischen Ursprung stellte der genealogischen Tradition eine teleologische Tradition entgegen, und die Mythenforschung unserer Zeit verdankt es nicht zuletzt dieser aufklärerischen Interpretation des Mythos, wenn sie die begrenzte Funktion der Genealogie im ursprungsmythischen Denken in einer Weise distanziert und kritisch darstellen kann, wie das heute an manchen Stellen religionswissenschaftlicher Forschung geschieht.»

[Heinrich, Klaus: Parmenides und Jona. Die Funktion der Genealogie im Mythos. Frankfurt a. M.: Stroemfeld/Roter Stern, 1982, S. 11-28]

Meine These war: es ist die Funktion der Genealogie im Mythos, den Bruch zu überbrücken zwischen dem Ursprung und allem, was dem Ursprung entspringt, die Macht der heiligen Ursprünge zu übertragen auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete. Diese These wird aktuell, wo wir auf die eben beschriebene Funktion der Genealogie stoßen, ist ursprungsmythisches Denken in Herrschaft. Überall dort stoßen wir, in den großen Religionen ebenso wie in deren Transformationen in ein «profanes» Denken, auf Reste der ursprungsmythischen Geisteslage oder auf einen Rückfall in sie.

Beispiel aus der Religionsgeschichte. Die Rolle der genealogischen Funktion kann sofort erkennbar und darum vergleichsweise harmlos sein, so wie im Islam der Herleitung der Prophetenworte durch die genealogische Kette der von Gewährsmann zu Gewährsmann getragenen und durch die Generationenfolge beglaubigten Hadithe. Hier ragen Reste ursprungsmythischen Denkens in eine prophetische Religion hinein. Die genealogische Funktion kann als bedrohlich erkannt, sie kann ein Gegenstand heftiger dogmatischer Kämpfe sein. So kämpft das trinitarische Dogma im Zentrum der christlichen Religion gegen eine genealogisierende Herleitung des Sohnes vom Vater, die aus dem Christus einen Abkömmling Gottes, also einen Heros machen würde. Es kämpft gegen den Rückfall in ein ursprungsmythisches Denken. Die genealogische Funktion kann eine fast allen Religionen gemeinsame Erscheinung sein, in der sie auf einer ursprungsmythischen Geisteslage beharren. Ich denke an das genealogisierende Festhalten am ursprünglich heiligen Wort in der ursprünglichen heiligen Sprache, in der es einmal den Menschen gegeben ist, an die Verkörperung jeder Abweichung vom Wortlaut oder auch nur der Rezitiergewohnheit. So bleibt die schon lange nicht mehr verstandene, aber von Generation zu Generation weitervererbte Formel – als Zauberformel – ein Unterpfand für die Bewahrung heiliger Ursprungsmacht.

Aber nicht minder wichtig ist die Erkenntnis des Rückfalls oder des Beharrens auf einer ursprungsmythischen Geisteslage in der Profanität – auch dann, wenn diese sich weit von jedem «religiösen» Ursprung entfernt glaubt. [...]

Zuerst das Beispiel aus der theoretischen Sphäre: in einem bedeutenden philosophischen Werk dieses Jahrhunderts – ich meine «Sein und Zeit» – lesen wir, dass die «Entfernung vom Ursprung» auch auf dem «Felde» der Ontologie «Degeneration» bedeute. Und von der dort angewendeten phänomenologischen Methode wird gesagt, dass jeder «ursprünglich geschöpfte Begriff oder Satz» in der Gefahr der «Entartung» stehe, die zugleich als ein Verlust an «Bodenständigkeit» beschrieben wird. Die Verwendung dieser genealogisierenden Begriffe indiziert eine ursprungsmythische Geisteslage, und wir haben Grund, zu fragen, wieweit eine Theorie auf die theoretische Sphäre beschränkt sein kann. Das Beispiel aus der praktischen Sphäre ist so nahe liegend, dass es keiner längeren Erläuterung bedarf. Ich meine die genealogisierende Beschwörung der Mächte des Ursprungs im Mythos von den Autochthonen oder den Angehörigen einer edlen Rasse, wie sie durch die Aktivierung einer ursprungsmythischen Geisteslage, unter Berufung auf die heiligen Mächte von Blut und Boden, immer wieder in der Profangeschichte zu einem mächtigen politischen Werkzeug tauglich war und ist.

Und schließlich noch ein Beispiel auf dem Bereich der therapeutischen Psychologie: sie bringt die gegenwärtige Situation des Individuums und der Gesellschaft mit ontogenetisch und phylogenetisch uralten Zuständen in Verbindung. Unbeschadet der anfänglich kritischen Zielsetzung dieser Therapie, sucht heute eine ihrer bekanntesten Schulen die genealogisierende Rückbindung an die unbewussten Mächte des Ursprungs als Heilung für ein von Zerstörung bedrohtes Bewusstsein. Ich erwähne das, weil diese Schule, deren Verfahren eine ursprungsmythische Geisteslage indiziert, von nicht zu unterschätzendem Einfluss ist auf die religionswissenschaftliche Erforschung des Mythos. Diese Bemerkung soll nicht den Wert von Jungs Entdeckungen in der Durcharbeitung eines ursprünglichen Materials (z.B. in Zusammenarbeit mit Kerényi: Einführung in das Wesen der Mythologie, Zürich 1951) schmälern, sondern auf die Gefahr einer Heilmethode aufmerksam machen, die, statt die Urkonflikte analysierend zu übersetzen, sie zu archetypischen Gestalten verklärt und die selbst der Heilung bedürftigen zu heiligenden Mächten erhebt.»

[Heinrich, Klaus: Parmenides und Jonas. Frankfurt/M.: Roter Stern, 1982, S. 22-25 und S. 166 Anm. 17]

„Ich habe ausdrücklich von der Funktion der Genealogie «im Mythos» gesprochen, und ich habe «Mythos» definiert einerseits als Stoff – nämlich als Göttergeschichte, d.i. die Geschichte erstarren machende Geschichte einer Urwirklichkeit – und andererseits als eine besonders Geisteslage, nämlich als das unbedingte, d.i. religiöse Ergriffensein von deren Mächten. Aber Mythos – in einem dritten, universalen Sinn – kann auch ein Moment in jeder menschlichen Rede bezeichnen: dass sie geeignet ist, zugleich mit dem begrenzten Stück der Wirklichkeit, das sie benennt, die Tiefendimension der Wirklichkeit hervortreten zu lassen.”

[Heinrich, Klaus: Parmenides und Jonas. Frankfurt/M.: Roter Stern, 1982, S. 26]

„Selbstverständlich ist die griechische Logik, wie jede Logik, ein entdämonisierendes Unternehmen. Aber der Kern dieser Logik ist die Genealogie, und das heißt: sie ruht auf einer ursprungsmythischen Geisteslage.”

[Heinrich, Klaus: Parmenides und Jonas. Frankfurt/M.: Roter Stern, 1982, S. 20]

„Paul Tillich (Gesammelte Werke, Bd.  II, Stuttgart, 1961, S. 234 ff.) analysiert die politischen Folgen des Ursprungsdenkens; dort auch (S. 239) der von mir zitierte Satz: Ontologie «ist die letzte, abstrakteste Fassung des Mythos vom Ursprung».”

[Heinrich, Klaus: Parmenides und Jonas. Frankfurt/M.: Roter Stern, 1982, S. 165 Anm. 16]

“Meine Kritiker haben mir den Vorwurf gemacht, dass ich die Sphären vermische. Sie bemerkten, dass ich, mit der Schilderung der Philosophie, die sich über den Mythos erhebt (und die ihm dadurch um so sicherer verfällt) ein Reinigungsritual beschrieben hatte, eine Zeremonie hat das europäische Denken bis auf den heutigen Tag bestimmt. Aber bedeutet nicht, diese Entmischung aufheben, eine Wiedereinsetzung des Mythos?

An dieser Stelle muss ich vorweg bemerken, was vielleicht einige meiner Leser enttäuschen wird: mein Buch ist nicht eines der Re-Mythisierung, sondern der Mythoskritik; allerdings einer Kritik, die den Mythos ernst nimmt. Ich muss eine biographische Bemerkung machen, die an die Stelle der räumlichen Entfernung, in der die Figuren dieses Buches stehen mögen, die zeitliche Nähe setzt, die mich zur Beschäftigung mit ihren verführt hat. Ich spreche von der Erfahrung, die in der Philosophie und den ihr benachbarten geisteswissenschaftlichen Disziplinen planmäßig verdrängt worden ist, jedenfalls in der europäischen Bewusstseinsphilosophie und deren sozialwissenschaftlichen Derivaten: ich meine die der öffentlichen, der kollektiven Bewusstseinsbildung, der ritualisierten Triebkräfte in unserer Gesellschaft. Die Philosophie, die ich nach diesem Krieg studierte (und die die gleiche ist, die noch heute von unseren Kathedern gelehrt wird), war von gesellschaftlichen Triebkräften gereinigt (so wenigstens glaubte ich). Si kannte weder Triebgrund noch Triebsubjekte, weder Geschlechterspannung noch eine Theorie des Bewusstseins der sozialen Klassen, die dieses anders als die traditionelle Lehre vom Bewusstsein verstand. Mit ihren Begriffen waren die kollektiven Vorgänge der jüngsten Gegenwart nicht einmal zu beschreiben, geschweige zu erklären.

In dieser Situation entdeckte ich, wie realistisch die Beschreibungen sind, die den Stoff der Religionen, speziell der Mythologie, bezeichnen. Hier war das Verdrängte der Philosophie am Werk: kollektiv-verbindliche Beschreibung der Angst vor ganz realen Bedrohungen (in Bildern, aber nicht Bildern, des Zerrissenwerdens, des Ausgelöschtwerdens, des Verschlungenwerdens dargestellt) und von Versuchen, damit fertig zu werden – aber war nicht auch die Philosophie ein solcher Versucht? Hier war von der Gattungsgeschichte der menschlichen Gesellschaft die Rede, hier war die Dimension des menschlichen Liebes so wichtig wie die des menschlichen Bewusstseins, ihre Konstruktionen machten weder vor dem Anstößigen noch vor dem Unvernünftigen, dem Fern liegenden oder Unerheblichen halt – der Leser dieses Satzes, der die Schriften Sigmund Freuds kennt, wird bemerken, dass in der psychoanalytischen Situation gerade dies die Bestimmungen sind, die Analytiker und Analysand ernst nehmen sollen; wohlgemerkt: im Rahmen einer Trieb und Bedürfnis einbeziehenden, die traditionellen Grenzen der Philosophie sprengenden Vernunft, nicht gegen sie. Kurz, ich fand in de Mythologie ein Bild der Realitäten wieder, vor denen unsere Philosophie bewahren will und vor denen sie ganz gewiss nicht bewahrt, solange sie diese nicht wahrnimmt.

Die vier Studien, die ich in meinem Buch vereinigt habe, versuchen, diese Realität wahrzunehmen. Ihr Interesse gilt sehr alten Konflikten und sehr alten Konstruktionen, aber es ist zugleich ein aktuelles Interesse: es gilt der unerledigten Geschichte, die im Selbstverständnis unserer Gesellschaft weiterlebt.

Ein Begriff wie der des Ursprungsmythos (ich verdanke ihn dem Philosophen und Theologen Paul Tillich, der als erster auf die Abhängigkeit des europäischen philosophischen Bewusstseins von ursprungsmythischem Denken und seinen politischen Korrelaten aufmerksam gemacht hat) muss mit unseren Erfahrungen neu konstruiert und zugleich in seiner alten genealogischen Struktur beschrieben werden, damit sein aktueller Wirkungsbereich (das, was er zugleich verschleiert und verklärt) hinreichend erkannt und zureichend kritisiert werden kann.

Ein Begriff wie der des Bundes (an sich ein Topos in der Geschichte des alten Israel und seiner Realitätserfahrung) darf weder der Theologie noch der Soziologie schon gar nicht einer geschichtslosen, europazentrierten überlassen bleiben; er muss mit Erfahrungen neu konstruiert werden, in denen das Verhältnis der Triebsubjekte untereinander und zugleich zum Triebgrund der Wirklichkeit auf dem Spiele steht (und mit ihm eine rationale Struktur, die diesen Bund akzeptiert, nicht eine, die ihn verdrängt).”

[Heinrich, Klaus: Parmenides und Jonas. Frankfurt/M.: Roter Stern, 1982, S. 211-213]

„Zur Ambivalenz von Natur und Geschichte in Hegels Symboltheorie: er kennt (nach dem Vorbild Creuzers) Symbole des «Geistes» und deren «innere Vernünftigkeit» (Ästhetik, S. 319); er formuliert (S. 320), ähnlich wie Bacon in der praefatio zu De sap. vet., dass die Alten «ihr Innersten und Tiefsten sich nicht in Form des Gedankens, sondern in Gestalten der Phantasie zum Ausdruck brachten»; aber er begründet, anders als Bacon, dies mit einem paradiesischen Urzustand der frühesten Menschen nach der Art der Urzeitvorstellungen Hamanns («indem die Völker zu der Zeit, als sie ihre Mythen dichteten, in selbst paradiesischen Zuständen lebten») und nimmt dadurch den frühen Mythen die Spannung der Geschichte.”

[Heinrich, Klaus: Parmenides und Jonas. Frankfurt/M.: Stroemfeld/Roter Stern, 1982, S. 174 Anm. 51]

«Was ist Mythos?

Da ich mich im Mythen-Verständnis vom gängigen Mythosbegriff im deutschen Sprachraum, der von Romantikern und Metaphysikern geprägt wurde, unterscheide, scheint mir eine kurze Einführung zu diesem Begriff nötig. Vielfach wird so gesprochen, als ob es nur eine Form des Mythos gäbe. In Wirklichkeit gibt es aber mehr Formen des Mythos als des Totemismus. Gestalt und Funktion der frühen Mythen unterscheiden sich von jenen der Schöpfungsmythen.

Im Unterschied zu den Romantikern und Tiefenpsychologen sehe ich im Mythos nicht nur ein Gebilde der wild wuchernden Phantasie, sondern ein Gebilde, bei dessen Entstehung rationale Kontrolle ebenso beteiligt war wie irrationale Antriebe. Der Mythos hatte immer eine Orientierungsfunktion, aber er übte diese immer entsprechend der jeweiligen Entwicklungsstufe des menschlichen Bewusstseins und der ökonomisch-gesellschaftlichen Verhältnisse auf ganz unterschiedliche Art aus: der Urmythos hat eine ganz andere Gestalt (nicht nur einen anderen Inhalt!) als etwa der Schöpfungsmythos. Das gemeinsame Band aller Mythen und damit auch die Basis für die Kontinuität trotz aller Verschiedenheiten des Inhalts und der Formen besteht darin, dass durch sie Unbekanntes, Unverstandenes, Rätselvolles und alles irgendwie in Frage Gestellte (an Bräuchen, Sitten, sozialer Ordnung) durch bekanntes aus der eigenen Umwelt, Innenwelt, Arbeitswelt, Technik, Kunst oder sozialer Organisation erklärt und begründet wird. Ernst Topitsch hat in seinem bekannten Buch „Vom Ursprung und Ende der Metaphysik“ (Wien 1958) die biomorphen, technomorphen, soziomorphen und intentionalen Modelle der mythischen Welterklärung darlegt. Der frühe Mythos erklärt das Unbekannte durch Bekanntes, der spätere Mythos begründet Vorhandenes durch Anerkanntes.

Den grundlegenden Fehler der tiefenpsychologischen Mythendeutung sehe ich darin, dass sie den Mythos gleich wie den Traum als Erzeugnis der frei schwebenden und schöpferischen Phantasie und Imagination versteht, die ja nach eigenen Erlebnissen, Stimmungen oder Zuständen diese in Symbole fasst und im freien Spiel der Assoziationen dramatisiert.

Schlimmer könnte das Missverständnis des Mythos nicht sein, denn er läuft eben nicht unkontrolliert ab, sondern erfüllt eine in den verschiedenen Entwicklungsphasen verschiedene Funktion. Der früheste Mythos schon steigt nicht wie der Traum unkontrolliert aus dem Unbewussten herauf, sondern ist vielmehr eine kreative Leistung des wachen Menschen zur Erfüllung einer ganz bestimmten Funktion. Dass an dieser kreativen Leistung die Phantasie, die Imagination ihren Anteil hat, wird selbstverständlich nicht in Abrede gestellt, aber der gesamte mythenbildende Prozess hat einen Sinn, eine bestimmte Funktion, ist also „ausgerichtet“. Und damit kommen wir zum zweiten Merkmal, das den Mythos vom Traum unterscheidet; der Mythos ist nie das private Erlebnis eines Einzelnen; Mythos entsteht erst dann, wenn die „offenbarende“ Erzählung eines Einzelnen von der Gesellschaft rezipiert worden ist und sie wird als Mythos nur dann rezipiert, wenn sie eine bestimmte Funktion der Gesellschaft oder Gruppe erfüllt, ein Bedürfnis befriedigt.

Die erste Funktion, die der Mythos erfüllt, ist die Erklärung des Unbekannten durch Bekanntes. Dieses Bedürfnis nach Welterklärung ist aber dem Menschen nicht angeboren, dahinter muss ein anderer, angeborener Antrieb gesucht werden. In der Tat verdankt es seine Entstehung zwei auch im Tierreich vorhandenen Antrieben, nämlich der Angst vor dem Unbekannten oder dem Bedürfnis nach Sicherheit und der angeborenen Neugier, alles Unbekannte zu untersuchen. Man hat bei Primaten untersucht, welcher von diesen beiden Antrieben stärker ist und stellte fest, dass es die Neugier ist. Angst und Neugier sind zwei Reaktionsformen, die sich gegenseitig ergänzen, so scheint die größere Intensität der Neugier den biologischen Sinn zu haben, die lähmende oder gar fluchtauslösende Wirkung der Furcht innerhalb gewisser Reiz-Schwellebwerte zu hemmen und die so gehemmte Antriebsenergie in den Neugier-Antrieb „umzuleiten“, so dass es zu einer Verstärkung der Neugier kommt. Übersteigt die Furcht allerdings eine gewisse Reizschwelle, dann verhält es sich gerade umgekehrt.

Beim Menschenkind ist der Drang alles mit seinen Sinnen Erfass- und Erreichbare zu erkunden, besonders stark ausgeprägt, ohne dass es dafür besonderer, angeborener Auslösereize bedarf, denn angeboren ist dem Menschen die Neugier, alles, was er noch nicht kennt, zu explorieren.

Die gleiche Neugier drängt den Frühmenschen auch zur Erkundung seiner Umwelt, die im Unterschied zum Tier zum Ordnen und zur Klassifizierung der Gegenstände bzw. der Begriffe führte. Ausgehend von der Erkundung des eigenen Körpers, der unmittelbaren Umwelt, wurde diese Erfassung oder Begreifung ausgedehnt auf alles Greifbare. Größere Schwierigkeiten bereiteten dem Frühmenschen die Einbeziehung jener Dinge und Erscheinungen in seine Vorstellungswelt, die nur mit den Fern-Sinnen erfassbar waren, z. B. nur gesehen werden konnten. Diese gesehenen Objekte mussten in Verbindung gebracht werden mit greifbaren und somit begriffenen Gegenständen, denn begriffen und erkannt hatte der Frühmensch nur das, was ihm bekannt war. Das Unbekannte musste auf Bekanntes reduziert werden. Und da ergaben sich für den Frühmenschen viele Schwierigkeiten: manche Dinge und Erscheinungen entzogen sich diesen ersten erkennenden Tastversuchen und blieben ihm unheimlich, sie waren für ihn Grund zur Furcht, Angst und Unsicherheit. So konnte er z. B. giftige Beeren oder Pilze auseinander nehmen, ohne auf etwas Bekanntes zu stoßen, das den Tod seines Kindes erklären könnte. Der Frühmensch konnte sich die Giftigkeit also nur dadurch erklären, dass gewisse Beeren oder Pilze wie menschliche Wesen reagieren: sie mussten die Menschen wohl hassen ähnlich dem Stein, an dem sich sein Fuß stieß.

Damit haben wir das älteste Welterklärungs- und erste mythenbildende Prinzip kennen gelernt, das allein einen Erkenntnisfortschritt ermöglichte: es ist die uns schon bekannte Methode, das Unbekannte durch Bekanntes zu erklären; aber der Frühmensch gab ihr eine ganz bestimmte Variante: wenn es nötig war, stellte er selbst durch kreative Imagination zwischen Dingen und Ereignissen eine Ähnlichkeit her, um damit das Unbekannte mit dem Bekannten zur Deckung zu bringen. [...]

Wir der Mythos losgelöst von der übrigen Entwicklungsgeschichte des Menschen, von seiner psychologischen Entwicklung wir von der kulturellen und soziologischen Evolution, als isoliertes Phänomen behandelt, dann kann man weder zu einer Erklärung noch zu einem Verständnis dieser kulturellen Schöpfung gelangen, man kann höchstens jede objektivierende Distanz verlieren und selbst ein Mythen-Gläubiger oder –Bewunderer werden, wie es bei deutschen Mythologien üblich ist, die nicht die Tradition der Aufklärung, sondern die der Romantik fortsetzen.

Ich gehe von der Feststellung aus, dass der Mythos für den Menschen, der in seiner Entwicklung noch nicht die Stufe des rational-wissenschaftlichen Denkens erreicht hat, in seiner archaischen Denkstruktur adäquates Mittel ist, um 1. das Unbekannte durch Bekanntes zu erklären und 2. sein soziales Verhalten (Heiratsregeln, reziproker Tausch, Inzest-Tabu, Sitten und Gebräuche usw.) durch Anerkanntes zu legitimieren.»

[Hernegger, Rudolf: Der Mensch auf der Suche nach Identität. Bonn: Rudolf Habelt Verlag, 1978, S. 166-168]

„1872 schrieb der junge Philologe Nietzsche (Nietzsches Werke, Zweite Abteilung, Band X [Das Philosophenbuch], S. 123 und 139, Leipzig 1903: «Die freidichtende Art, wie die Griechen mit ihren Göttern umgingen! Wir sind an den Gegensatz von historischer Wahrheit und Unwahrheit zu sehr gewöhnt. Es ist komisch, dass die christlichen Mythen durchaus historisch sein sollen!» (§ 44) «Die Wahrheit fordert der Mensch und leistet sie im moralischen Verkehr mit Menschen, darauf beruht alles Zusammenleben. Man antizipiert die schlimmen Folgen gegenseitiger Lügen. Von hier aus entsteht die Pflicht zur Wahrheit. Dem epischen Erzähler gestattet man die Lüge, weil hier keine schädliche Wirkung zu ersehen ist. – Also wo die Lüge als angenehm gilt, ist sie erlaubt: die Schönheit und Anmuth der Lüge, vorausgesetzt, dass sie nicht schadet. So erfindet der Priester Mythen seiner Götter: sie rechtfertig ihre Erhabenheit. Außerordentlich schwer, das mythische Gefühl der freien Lügen wieder sich lebendig zu machen. Die großen griechischen Philosophen leben noch ganz in dieser Berechtigung zur Lüge (...) Das Wahrheitsstreben ist ein unendlich langsamer Erwerb der Menschheit.» (§ 70).”

[Veyne, Paul: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt a. M.: Edition Suhrkamp 1226, 1987, S. 169 Anm. 65]

„Die Mythen zu kritisieren [bei den Griechen] hieß nicht, ihre Falschheit zu beweisen, sondern vielmehr, ihren wahren Kern wieder zu entdecken. Denn diese Wahrheit war mit Lügen zugeschüttet worden. «Zu allen Zeiten hat es sich so verhalten, dass die Gebäude der Fiktionen, die man auf einem wahren Grund errichtete, die Leute davon abhielt, an die Tatsachen zu glauben, die sich früher ereignet haben oder die selbst heute noch geschehen; diejenigen, die es lieben, Mythifikationen zu hören, werden gleichfalls ihre eigenen Hirngespinste hinzufügen; indem sie die Wahrheit aber so mit Lügen vermischen, schadet sie dieser» (Pausanias, VII, 2, 6-7). Aber woher kommen diese Lügen, und wozu dienen sie? Das ist etwas, was sich die Griechen nicht oft gefragt haben, weil ja an einer Lüge nichts Positives war: sie ist ein Nicht-Sein und weiter nichts. Sie fragten sich weniger, warum einige gelogen hatten, als vielmehr, warum andere geglaubt hatten; erst bei den Modernen, von Fontenelle bis Cassirer, Bergson und Lévi-Strauss, wird das Problem des Mythos zum Problem seiner Genese. Für die Griechen bot diese Genese keine Schwierigkeit: In ihren Kern sind die Mythen authentische historische Überlieferungen; denn wie könnte man über etwas sprechen, was es nicht gibt? Man kann die Wahrheit verändern, aber von nichts zu sprechen, ist unmöglich. Was diesen Punkt angeht, so fragen sich die Modernen eher, ob man über nichts sprechen kann, ohne irgendein Interesse zu verfolgen; selbst Bergson, der der Idee des interessenlosen Fabulierens ihre ganze Tragweite beigemessen hat, geht zunächst davon aus, dass das Fabulieren zuallererst eine vitale Funktion hat: nur wird diese Funktion gestört und läuft oft ins Leere. Ohne allen Zweifel war Fontenelle der erste, der es gesagt hat: die Fabeln haben keinen wahren Kern und sind nicht einmal Allegorien: «Lasst uns also in den Fabeln nichts anderes suchen als die Geschichte der Irrtümer des menschlichen Geistes».

[Verne, Paul: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt a. M.: Edition Suhrkamp 1226, 1987, S. 74-75]

„Sehr wenige griechische Mythen erklären Riten, und die, die es tun, sind weniger die Erfindung von Priestern, die einen Ritus begründen wollen, als die Einbildungen begabter lokaler Köpfe, die für bestimmte kulturelle Besonderheiten, die die Reisenden verwirrten, eine romanhafte Erklärung erfunden haben; der Mythos erklärt den Ritus, aber dieser Ritus ist bloß eine lokale Kuriosität. Die stoische Dreiteilung des Varro, die zwischen den Göttern, der Polis, denen die Menschen einen Kult weihen, den Göttern der Dichter, d.h. den Götter der Mythologie, und den Göttern der Philosophen unterschied, bleibt fundamental (P. Boyancé, Etudes sur la religion romaine, Ecole française de Rome, 1972, S. 254).“

[Veyne, Paul: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt a. M.: Edition Suhrkamp 1226, 1987, S. 159 Anm. 28]

„Wenn der Mythos indessen neben Falschem auch Wahres enthält, dann ist es nicht so dringlich, die Psychologie des Geschichtenerzählers zu erklären, als zu lernen, sich vor dem Falschen in acht zu nehmen: Das Opfer ist interessanter als der Täter; die Griechen haben immer gedacht, dass die Wissenschaften vom Menschen eher normativ als deskriptiv seien, oder besser, sie haben nicht einmal daran gedacht, einen Unterschied zu machen: ihrer Meinung nach lag das Ziel einer Wissenschaft vom Mythos nicht darin, den Irrtum zu verstehen, sondern zu lernen, wie man ihn vermeidet. Anstatt sich zu fragen, ob der Mythos den Ritus erklärt, ob er durch seine Struktur die des menschlichen Geistes enthüllt, ob er ein funktionelles oder verrückt gewordenes Dichten ist etc., ist es nützlicher, Denkpolizist zu spielen: man wird die Naivität der Menschen denunzieren und die Spreu vom Weizen trennen.“

[Veyne, Paul: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt a. M.: Edition Suhrkamp 1226, 1987, S. 76]

„Eine schöne Studie von F. Hampl, Geschichte als kritische Wissenschaft, Darmstadt 1975, Bd. II, S. 1-50: «Mythos, Sage, Märchen», zeigt, wie nutzlos es wäre, zwischen Märchen, Sage und Mythos zu unterscheiden, indem man ihnen einen unterschiedlichen Grad an Wahrhaftigkeit oder ein jeweils anderes Verhältnis zur Religion zuschriebe. Der «Mythos» ist kein transhistorisches Element, keine Invariante; die Gattungen, in denen das mythische Denken wirkt, sind ebenso vielfältig, veränderlich und fließend wie die anderen literarischen Gattungen in den Literaturen aller Völker und Jahrhunderte. Der Mythos ist kein Wesen.”

[Veyne, Paul: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt a. M.: Edition Suhrkamp 1226, 1987, S. 185 Anm. 210]

„Das Wesen eines Mythos besteht nicht darin, dass alle ihn kennen, sondern dass man glaubt, er sei allen bekannt und er sei würdig, es zu sein; deshalb kannte man ihn auch im Allgemeinen nicht. [...] Das Athener Publikum verfügte über globale Kenntnisse einer mythischen Welt, in der sich die Tragödien abspielten, die Einzelheiten der Fabeln selbst aber waren ihm nicht bekannt; deshalb brauchte es auch nicht das geringste von der Ödipuslegende zu wissen, um der Antigone oder den Phönizierinnen folgen zu können: der tragische Dichter trug Sorge, seinem Publikum alles beizubringen; ganz so, als hätte er seine Intrige selbst erfunden. Doch stellte sich der Dichter nicht über sein Publikum, denn der Mythos galt ja als bekannt; er wusste darüber nicht mehr als die anderen, er schrieb keine gelehrte Literatur.

In der Zeit des Hellenismus wird alles ganz anders: die Literatur versteht sich selbst als gelehrt; nicht dass sie sich zum ersten Mal einer Elite vorbehält (Pindar und Aischylos waren nicht gerade volkstümliche Schriftsteller), aber sie verlangt von ihrem Publikum eine kulturelle Anstrengung, die Laien ausschließend; die Mythen räumen den Platz für genau das, was wir noch heute die Mythologie nennen und was bis ins 18. Jahrhundert überleben wird, aber die Mythologie entfernte sich von ihm, seitdem sie zur Lehre geworden war: In den Augen des Volkes hatte sie das Prestige eines Wissens der Elite, an dem sich der Rang eines Mannes messen ließ.

In der Epoche des Hellenismus, in der die Literatur zu einer spezifischen Tätigkeit geworden ist, die Autoren und Leser um ihrer selbst willen pflegen, wird die Mythologie zu einer Fachrichtung, die man bald in der Schule lernen wird. Dennoch wird sie nicht zu einer toten Sache, im Gegenteil: sie bleibt eines der wesentlichen Elemente der Kultur und hört nicht auf, ein Stein des Anstoßes für die Gebildeten zu sein.“

[Veyne, Paul: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt a. M.: Edition Suhrkamp 1226, 1987, S. 59-60]

„Zitieren wir auch den sensationellen Text aus der Metaphysik des Aristoteles, 1074 b 1: «Es wird aber von den Alten und den Vätern aus grauer Vorzeit im Gewand des Mythos überliefert, dass die Sterne Götter sind ...; das übrige ist dann in mythischer Weise hinzugefügt worden zur Überredung der Menge und um die Beobachtung der Gesetze und des Gemeinwohls zu sichern. Man legt den Göttern nämlich menschliche Gestalt bei ....; sondert man nun hiervon einzig jenes Erste ab und betrachtet man es allein ... wird man erkennen, dass das eine wirklich göttliche Tradition ist: und da wahrscheinlich jede Kunst und Philosophie mehr als einmal, soweit es möglich war, entdeckt und ausgebildet und dann wieder verloren worden ist, so mag man auch in diesen Ansichten gleichsam Überbleibsel einer frühen Weisheit sehen, die sich bis auf unsere Zeit erhalten hat.» Die für uns so seltsame Sternreligion der griechischen Denker ist hervorragend charakterisiert worden von P. Aubenque, Le Problème de l’Être chez Aristote, Paris 1962, S. 335f.”

[Veyne, Paul: Glaubten die Griechen an ihre Mythen? Frankfurt a. M.: Ed. Suhrkamp 1226, 1987, S. 172 Anm. 108]

„Kurt Hübner, ein Professor der Philosophie an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel veröffentlichte 1985 das Buch „Wahrheit des Mythos“. „Otto-Normalverbraucher“ fragt sich, was er mit einem philosophischen Werk, noch dazu einem, das sich mit den Begriffen Wahrheit und Mythos beschäftigt, anfangen soll. Die Frage ist berechtigt, aber: Das Buch hat mehr mit der Gegenwart zu tun, als man zunächst annehmen würde. Hübner zeigt in dieser philosophisch-systematischen Abhandlung, inwieweit das heutige Denken durch die Naturwissenschaft geprägt ist und setzt sich mit dem Vorurteil gegen den Mythos auseinander, der nicht mehr oder weniger rational ist, als die Wissenschaft. Beide Richtungen sind letztendlich Erfahrungs- und Denkschemata die Wirklichkeit bzw. die Welt zu deuten und beide Richtungen stützen sich dabei auf Axiome, d.h. auf nicht mehr überprüfbare Grundlagen. Hübners „Wahrheit des Mythos“ räumt also auf mit den Vorurteilen gegenüber dem Mythos und zeigt auf, inwieweit Mythisches auch heute noch vorhanden ist, z.B. in jedem Glauben, in der Politik, z.B. im Grundgesetz Deutschlands, in der modernen Malerei etc. Am Ende dieser Lektüre wird man nicht nur die für unser heutiges Verständnis so wichtige Wissenschaft mit anderen Augen sehen, sondern auch einen Begriff von dem mythischen Denken der Alten, d.h. vor allem der alten Griechen, haben und erkennen, dass der Mythos nicht ein Aberglaube oder etwas Primitives ist, sondern lediglich eine andere Auffassung der Wirklichkeit, die uns heute fremd geworden ist. Neben einigen z.T. anstrengenderen Passagen, enthält dieses Buch aber vor allem auch sehr Lehrreiches und Anschauliches.“

[Amazon.de/ Uni-Studentenrezension von: Hübner, Kurt: Die Wahrheit des Mythos.  München: C.H. Beck, 1985]

«Mythos ist, um tautologisch zu sprechen, Natur- und deswegen Ursprungsmythos; seine „Qualität" und „Mächtigkeit" sind die des – „Ursprungs", der Stiftung oder Gründung, um „soziologisch" zu sprechen – d. h. in der Sprache einer konservativen Soziologie, von der eben gilt, was P. Tillich von allem „konservativen... Denken... in der Politik" sagt: dass das „ursprungsmythische Bewusstsein" seine „Wurzel" ist. Die Wurzel der Ethik, die dekretiert: „Das Mächtige hat recht"; „das ist die einzig mögliche Ethik auf dem Boden des konsequenten Ursprungsmythos. Aber freilich", so wendet Tillich selbstverständlich ein: „Das ist keine Ethik, sondern eine Feststellung und unbegründete Benennung des Gleichen mit den beiden Namen Macht und Recht."

Hiergegen – und dieser Unterschied entgeht Koselleck – ist „die Brechung des Ursprungsmythos durch die unbedingte Forderung" des Rechts „die Wurzel des liberalen, demokratischen und sozialistischen Denkens in der Politik", die „Brechung des Ursprungsmythos" also, wie sie zuerst die jüdischen Propheten vornahmen, aus der „Paria"-Situation ihres Volkes heraus. Für sie zuerst war die „Kategorie Novum" zentral, die Zukunft eben. – „Wo der Ursprung herrscht, kann es das Neue nicht geben. Die Herrschaft des Woher macht die Ernsthaftigkeit des Wozu unmöglich. Der Kreislauf", dessen „Gesetz" der Ursprung in sich enthält, „kann enger und weiter gespannt sein: er bleibt Kreislauf." „Auch die priesterlichen Mysterien und Offenbarungen beziehen sich auf das Woher und ihre Kulte und Einweihungen auf die Rückkehr zum Ursprung... ,Eschatologische Sakramente’ (A. Schweitzer) treten erst später und auf dem Boden von Religionen auf, die durch Enderwartungen bestimmt sind", im Judentum und Christentum also. – Wir haben auch diese Passage aus Tillichs „Sozialistischer Entscheidung" noch zitiert, da gerade sie zeigen kann, daß Kosellecks Vermutung, beim „zukunftsprägenden" Vorgriff des neuzeitlichen Begriffs handle es sich um „eine ‚Säkularisation' theologischer Bedeutungsstreifen", nur in Bezug auf das „liberale, demokratische und sozialistische Denken" (zu seiner Zeit) richtig ist – es sei denn, Koselleck bezöge eine remythisierende, ja reritualisierende Theologie in seine „säkularisierte" mit ein, was selbstverständlich nicht „verboten" werden kann, aber – in der kritisierten Weise – den Theologie- und damit neuerlich auch den Mythos-Begriff verunklären würde; zumal in „nachmythischer" Zeit, d. h. in einer Periode des wie auch immer „gebrochenen Mythos".

H.-R. Jauss hat, bei Unterstellung des unklaren Mythos-Begriffs Kosellecks – unklar durch seine Nichtunterscheidung von Protologie und Eschatologie –, auf einen weiteren kritischen Punkt hingewiesen: „Koselleck hatte" in „der Beziehung von Ideologie und Mythos... ein historisches Folgeverhältnis gesehen. Mit der vollendeten Aufklärung, um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, ändert sich auch der Horizont der mythischen Erfahrung: an die Stelle der rezipierten alten Mythen tritt eine neue Form des Mythos, ,der eigentlich Ideologie heißen sollte'. Denn die Möglichkeit, neue Mythen zu erzeugen, setzt die Zerstörung der alten Mythen durch die historische Kritik voraus, wie das Beispiel des historisierten Christentums" Koselleck „zeigte ... Doch ist die Mächtigkeit der neuen Mythen des 19. Jahrhunderts", so fragt diesen Jauss, „durch ihre ideologische Setzung schon hinreichend erklärt? Handelt es sich bei ,Ehre’, ,Nation’, ,Rasse’ oder ‚Klasse’ um nicht mehr als ein ,Epiphänomen geschichtsphilosophischer Funktionalität, das zufällig auch „Mythos" heißen kann'? Mir scheint es nicht zufällig zu sein, dass diese für die nachrevolutionäre Geschichte so spezifischen Ideologien Mythen genannt werden. Denn wie wäre ihre ungeheure... Wirkung auf die Massen zu erklären, wenn nicht durch eine latente Bereitschaft zur Rezeption, die durch die Erinnerung an aufgegebene oder nicht mehr geglaubte alte Mythen vorstrukturiert war? Erlangten die neuen nationalen und sozialen Mythen des 19. Jahrhunderts ihre Mächtigkeit nicht gerade dadurch, dass sie sich die Verbindlichkeit der Ursprungsmythen für einen Vorentwurf der Zukunft zu eigen machten? Die neue Erfahrung der geschichtlichen Zeit, die sich nach Koselleck von aller naturalen oder mythischen Rückbildung ablöste, hat offenbar den Raum für die Erzeugung neuer Mythen freigesetzt, die sich angesichts der Bedrohung durch die unkontrollierbare gesellschaftliche Entwicklung und durch den allgewaltigen Produktionsprozess wieder auf die Substanzialität des naturhaften Daseins beriefen."

Wie gesagt, auch bei Jauss geht einiges, wenn nicht alles, durcheinander, bzw. auch er scheint jeder Geschichtsphilosophie und damit Utopie ablehnend gegenüberzustehen – wie Koselleck. Auch ihn scheint die Einsicht in die „Dialektik der Aufklärung" zu sowohl antifaschistischen wie antisozialistischen Schlüssen zu führen; wie sollte man sonst die unterschiedslose Aufzählung von „Rasse" und „Klasse", „nationalem" und „sozialem" Mythos verstehen, dessen Undifferenziertheit überhaupt? Wie, um zu wiederholen, seine umstandslose Kontamination mit der Utopie? – Richtig verstanden, holt diese sich nur dialektischen Sukkurs beim „Ursprungsmythos", gemäß Horkheimer-Adornos Diktum: „Nicht um die Konservierung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der vergangenen Hoffnung ist es zu tun." Niemals beruft sich die Utopie „auf die Substantialität des naturhaften Daseins". Der erneuerte Ursprungsmythos der Faschisten freilich tut das, und er kann sich dabei auf „die Erinnerung an aufgegebene oder nicht mehr geglaubte alte Mythen" stützen – wie Jauss richtig sieht.

Dem faschistischen Mythos wird „zweite" wieder zur ersten Natur, was wesentlich von jener ermöglicht wird, um nochmals auf Adorno (-Horkheimer) zu rekurrieren, der – in der „Dialektik der Aufklärung" – zeigen will, „dass die Ursache des Rückfalls von Aufklärung in Mythologie nicht so sehr bei den eigens zum Zweck des Rückfalls ersonnenen nationalistischen, heidnischen und sonstigen modernen Mythologien zu suchen ist, sondern bei der in Furcht vor der Wahrheit erstarrenden Aufklärung selbst. Beide Begriffe" – so betont Adorno – „sind dabei nicht bloß als geistesgeschichtliche, sondern real zu verstehen. Wie die Aufklärung die wirkliche Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft als ganzer unter dem Aspekt ihrer in Personen und Institutionen verkörperten Ideen ausdrückt, so heißt Wahrheit nicht bloß das vernünftige Bewusstsein, sondern eben so sehr dessen Gestalt in der Wirklichkeit." Und eben diese bleibt, „in der Verfügung weniger über die Produktionsmittel und in den unerbittlich davon verursachten Konflikten, so unvernünftig, schicksalhaft und bedrohlich wie von alters her. Je rationaler sich das Ganze ineinanderfügt und schließt, desto furchtbarer wächst seine Gewalt über die Lebendigen an samt der Unfähigkeit von deren Vernunft, es zu ändern. Wie aber das Bestehende in solcher Irrationalität rational sich rechtfertigt, so muss es Sukkurs suchen bei eben dem Irrationalen, das es ausrottet, bei der Tradition." Die bürgerliche Gesellschaft ist dazu gezwungen, „je weniger ihr Prinzip duldet, was ihm nicht gleicht", sich „desto eifriger ... auf Tradition" zu berufen. „Überall aber bedeutet Tradition ein Doppeltes: die Herleitung von einem Ursprung und die Unterwerfung unter die Autorität des Ursprungs, also eines besonderen Raumes und seiner Struktur."

Die „abendländische" Tradition kann als die „complexio oppositorum" aller Einzeltraditionen verstanden werden, auf die Tillich an gleicher Stelle hinweist: „Die Traditionen sind so differenziert wie die Ursprünge, denen sie entstammen. Boden-, Orts-, Landschafts- und Heimat-Traditionen stehen neben Bluts-, Familien-, Geschlechter- und Volks-Traditionen, Standes-, Berufs-Traditionen neben Sitten-, Rechts- und religiösen Traditionen." Doch auch und gerade vom „Abendland" von Europa gilt das Genealogische (und Autoritäre) jeder Tradition. Wer auf die Frage: „Was ist Europa?" zur Antwort erhält: „Europa ist aus Asien hervorgegangen. – Ein Gott aus dem Norden hat es dem Orient entrissen...", kann nicht bezweifeln, dass es selbst schon in einer Genealogie steht, deren „Funktion ... im Mythos" es ist, „die Macht der heiligen Ursprünge zu übertragen auf das von ihnen Abstammende, aus ihnen Abgeleitete" – ihre „Autorität".

De Reynold, ein Abendland-Ideologe hohen Grades, der uns den Ursprungsmythos von der Heroine Europa kurz nacherzählt, erzählt einen Mythos im strengen Sinn, nämlich eine – „Göttergeschichte". „Mythos ist Göttergeschichte. Das ist die Wortdefinition, die nicht verlassen werden darf", um nochmals Tillich zu zitieren. K. Heinrich hält sich an dessen „Wortdefinition" und weitet sie zugleich aus, indem er „Göttergeschichte" als „die Geschichte erstarren machende Geschichte einer Urwirklichkeit" erklärt. Damit ist es möglich, ja notwendig, in kritischer Absicht auch von einem Abendland-Mythos zu reden, d. h. den einen Europa-Mythologen zu nennen, der das Abendland selbst zur „Urwirklichkeit" hypostasiert und mit Bezug auf es die genealogische Frage stellt: Wie hat „das dem Ursprung Entspringende ... an der unbedingten Macht des Ursprungs" teil? Tillich antwortet: „Durch die Tradition" bzw. – da er sich des Traditionsbruchs bewusst ist – „durch den vorgeblichen ,Versuch ..., alte verlorene Traditionen wieder aufzunehmen."` Möglichst die „integrale Tradition" des Abendlandes, wie ein L. Ziegler z. B. immer wieder fordert.»

[Faber, Richard: „’Begriffsgeschichte’ und ‚Mythologie’“. In: Münzberg, Olav / Wilkens, Lorenz (Hrg.): Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M.: Verlag Roter Stern, 1979, S. 145-150]

„Heidegger verortete den griechischen Durchbruch, die Gründungsgeste der westlichen Kultur in der Überwindung des vor-philosophischen mythischen «asiatischen» Universums: Der größte Gegensatz des Westens ist «der Mythos im allgemeinen und der asiatische im speziellen».

Aber diese Überwindung ist nicht einfach ein Hinter-sich-lassen des Mythischen, sondern ein konstanter Kampf mit (in) ihm: Philosophie braucht den Rekurs auf den Mythos nicht nur wegen äußerlicher Gründe, um ihre konzeptionelle Lehre den ungebildeten Massen zu erklären, sondern an sich, um ihr eigenes konzeptuelles Gebäude dort zu «flicken», wo es darin fehlt, seinen innersten Kern zu erreichen: von Platons Höhlengleichnis zu Freuds Mythos des Urvaters und Lacans Mythos der Lamelle. Mythos ist somit das Reale des Logos: der fremde Eindringling, unmöglich ihn los zu werden, unmöglich völlig innerhalb von ihm zu bleiben.

Darin besteht die Lehre von Horkheimers und Adornos Dialektik der Aufklärung: Aufklärung «vergiftet» immer schon die naive mythische Unmittelbarkeit, Aufklärung selbst ist Mythos, das heißt ihre eigene gründende Geste wiederholt die mythische Operation. Und was ist Postmoderne, wenn nicht die ultimative Vernichtung der Aufklärung in ihrem größten Triumph: Wenn die Dialektik der Aufklärung ihren Höhepunkt erreicht, generiert die dynamische, wurzellose, postindustrielle Gesellschaft unmittelbar ihren eigenen Mythos.”

[Zizek, Slavoj: “Hamlet vor Ödipus. Die Postmoderne als Mythos der Moderne”. In: texte, Heft 2 / 2001, 21. Jahrg., Wien: Passagen Verlag, S. 114-115]

«Klaus Heinrich hat darauf aufmerksam gemacht, dass die deduktive Ableitung als Säkularisation ursprungsmythischen Denkens zu verstehen ist: „Der Kern dieser Logik ist die Genealogie" (K. Heinrich, Die Funktion der Genealogie im Mythos, in: ders., Parmenides und Jona – Vier Studien über das Verhältnis von Philosophie und Mythologie, Frankfurt am Main 1966, S. 9-27, hier: S. 20; vgl. auch ders., Versuch über die Schwierigkeit nein zu sagen, Frankfurt am Main 1964, S. 24 ff. u. S. 173 ff. = Anm. 18 u. 19). Von unserer Betrachtung der pythagoreischen „Lehre vom Geraden und Ungeraden" her läßt sich ergänzend zeigen, dass jenes ursprungsmythische Denken sich hinsichtlich der Methodik einer ,exakten Wissenschaft' als eine Wissenschaftstheorie auswirkt, die die analytische Seite der Methode verdrängt: Die von der platonischen Philosophie geprägte Mathematik-Tradition hat die Ausgangspunkte der deduktiven Ableitung nicht als Resultate von Analyse verstanden, sondern als ρχαί (archái), deren man sich „wiedererinnert" (vgl. vor allem die Sklaven-Szene im ,Menon`, 82b-85c); in der Evidenzforderung für die Ausgangspunkte lebte diese Tradition, wenn auch nicht unangefochten, fort, bis ihr die Hilbertsche Begründung des Formalismus den entscheidenden Stoß versetzte. Tatsächlich freilich gilt für die gesamte Geschichte der wissenschaftlichen Mathematik, was bereits an der pythagoreischen „Lehre vom Geraden und Ungeraden" zu studieren ist; ihre Erkenntnisfortschritte erzielt sie trotz jener vom ursprungsmythischen Denken geprägten Wissenschaftstheorie als analytisch/synthetische Wissenschaft. Es läge wohl nahe, Archimedes oder sonst einen der nicht-platonischen Mathematiker zur Illustration dessen anzuführen; reizvoller ist es aber, auf eine Stelle im Euklid-Kommentar des Neuplatonikers Proklos zu verweisen, wo die „Probleme" als die zu analysierende „Materie" der Mathematik erscheinen: „Wie nämlich die praktischen Wissenschaften nicht ohne Theorie auskommen, ebenso haben die Geistesdisziplinen (worunter die Mathematik fällt) die Probleme sich angegliedert in einer der tätigen Erzeugung analogen Weise... Denn ohne Eingehen in die (intelligible) Materie gibt es kein Finden von Lehrsätzen..." (vgl. den Auszug bei O. Becker, Grundlagen, a.a.O., S. 100f.). – Im Hinblick auf die Prägung der deduktiven Ableitung durch ursprungsmythisches Denken bleibt freilich zu bedenken, welche Folgerungen daraus zu ziehen sind, dass in den ‚exakten Wissenschaften' – wie gleich noch zu zeigen – nicht von ρχαί (archái), sondern von στοιχεα (stoichéia) ausgegangen wird, und die Deduktion mithin, als Synthese im analytisch/synthetischen Verfahren, nicht sosehr als eine ‚Ableitung' denn als eine ,Komposition' anzusehen ist: gilt dann noch „die Dialektik des Entspringens" (K. Heinrich, Die Funktion, a.a.O., S. 15)? Dass das Aggregationsmodell, das dem von στοιχεα (stoichéia) ausgehenden Verfahren zugrunde liegt, andere Wurzeln hat als jene vom ursprungsmythischen Denken geprägte platonische Wissenschaftstheorie, scheint mir jedenfalls sicher.»

[Lefèvre, Wolfgang: „Die Lehre vom Geraden und Ungeraden“. In: Münzberg, Olav / Wilkens, Lorenz (Hrg.): Aufmerksamkeit. Frankfurt a. M.: Verlag Roter Stern, 1979, S. 317, Anm. 21]

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