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RHETORIK UND DICHTUNG Retórica y poesía (comp.) Justo Fernández López Diccionario de lingüística español y alemán
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„Die Vorbereitung der Trennung von Dichtung und Rhetorik in den Poetiken des 18. Jahrhunderts.
«Prends l’éloquence et tords‑lui son cou!». Dieser Vers aus dem Art poétique von Verlaine gibt die Meinung wieder, die die Mehrzahl der Dichter und Autoren des 19. Jahrhunderts von der Bedeutung der Rhetorik in der Dichtung haben oder zu haben vorgeben. Schon die Romantiker ließen die Rhetorik in der Dichtung nicht mehr zu – wenigstens in der Theorie, denn in ihren Gedichten und Werken verwenden sie ihre Mittel noch häufig: So baut noch Baudelaire ein ganzes Gedicht, Le coucher du soleil romantique, über die Redefigur der Metapher. Die Romantiker fordern Spontaneität, Aufrichtigkeit, Gefühl ohne Künstlichkeit und Künstelei, und deswegen lehnen sie die Rhetorik in der Dichtung ab, wollen keine Dichtung mehr, deren Schönheit im Gebrauch harmonischer Formen und Ausdrücke und in der logischen Konstruktion besteht und dem ausserpoetischen Zweck der Belehrung untergeordnet wird. Madame de Staël wendet sich in ihrem berühmten Artikel, mit dem sie in der Biblioteca Italiana den Anstoß zu den Diskussionen über die Romantik in Italien gab, gegen die Schriftsteller, die die äußere, rhetorische Schönheit anstreben: «Havvi oggi nella letteratura italiana ... scrittori ... senz'altro capitale che molta fiducia nella lor lingua armoniosa, donde raccozzano suoni vôti d'ogni pensiero, esclamazioni, declamazioni, invocazioni che stordiscono gli orecchi, e trovan sordi i cuori altrui, perché non esalarono dal cuore dello scrittore».
Bis zur Romantik hin konnte hingegen ein Autor von Dichtungen nicht nur die Mittel anwenden, die ihm die Rhetorik bot, sondern es auch zugeben, ohne sich dessen schämen zu müssen. So erschien es Vittorio Alfieri natürlich, in seiner Vita zu schreiben, er teile die Ausarbeitung seiner Tragödie in drei Phasen ein, die der Inventio, Dispositio und Elocutio der klassischen Rhetorik entsprachen.
In der Theorie wurde die Trennung von Dichtung und Rhetorik jedoch schon seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts vorbereitet. Diese Entwicklung kann man in ganz Europa beobachten. Wir werden das an einigen Theoretikern zeigen und uns dafür zunächst Frankreich, dann Italien, dann Spanien und zuletzt England zuwenden.
Der Abbé Du Bos legt die Grundlagen für eine Unterscheidung von Poesie und Rhetorik, indem er die Künste auf das Gefühl und die Leidenschaften gründet. Er glaubt, dass die Leidenschaften gefährlich sind, aber die Menschen nicht leben können, ohne Leidenschaften zu fühlen. Die Künste ermöglichen es ihnen nun, Leidenschaften zu ver spüren, aber Gefühle und Leidenschaften, die nur von der Darstellung der Dinge, nicht von den Dingen selbst geweckt werden und daher nicht die schlechten Folgen haben, welche die sich an der Realität entzündenden Leidenschaften hätten. So ist das letzte Ziel der Dichtung und der Malerei nicht die formale Schönheit, sondern, den Hörer oder den Betrachter zu rühren und zu erfreuen. Du Bos zitiert in diesem Zusammenhang Horaz:
Non satis est pulcra esse poemata, dulcia sunto,
Et quocumque volent, animurn auditoris agunto.
Er unterscheidet den Zweck der Dichtung, die Rührung, von dein de Rhetorik, der Überzeugung, die er offensichtlich für die Wirkung eine rein äusserlichen Geschicklichkeit und der logischen Gedankenführung hält, obwohl er einräumt, dass auch der Redner sich nicht nur de rationalen Gründe, sondern auch der rührenden Bilder bedienen soll.
In der Darlegung von Du Bos wird der Wahrheit und der Wahrscheinlichkeit in der Dichtung weniger Bedeutung zugemessen, als es in den Theorien des französischen 17. Jahrhunderts geschah, die die Beziehung zwischen Dichtung und Wahrheit sehr betonten und zum Ausgangspunkt vieler Überlegungen machten. Dieser herkömmliche Stanpunkt wird hingegen noch vom Abbé Batteux vertreten und zu Grundlage seines Principes de la littérature gemacht. Batteux sieht keinen entscheidenden Unterschied zwischen Dichtern und Rednern, obwohl er zwischen den Zwecken der Dichtung und der Beredsamkeit (der Prosa) unterscheidet; jene suche das Vergnügen, diese die Unterrichtung. Er schreibt: « ... les grands Orateurs, anciens et modernes, sont arrivés à la gloire ... pour avoir été poëtes dans leurs oraisons, comme les poëtes avoient été orateurs dans leurs poésies». Batteux sieht in der Imitatio das allen Künsten gemeinsame Prinzip, erkennt in ihr daher auch die Grundlage der Dichtung und der Beredsamkeit bzw. der Rhetorik.
Aber im Artikel, der in der Encyclopédie über das «génie» veröffentlicht wurde und den man Diderot oder Saint‑Lambert zuschreibt, ist eine andere Tendenz bemerkbar. Hier wird das Genie mit der Fähigkeit zu fühlen verbunden: «L'homme de génie est celui dont l’âme ne reçoit pas une idée qu'elle n'éveille point un sentiment ...». Genie und Vernunft werden einander entgegengesetzt: «Il (le génie) construit des édifices hardis que la raison n'oserait habiter, et qui lui plaisent par leurs proportions et non par leur solidité ...». Zwar wird in diesem Artikel der rationalen Wahrheit nicht weniger Wert gegeben als der Phantasie oder Einbildungskraft, doch macht sich schon eine gewisse Entgegensetzung zwischen dem ästhetischen Vermögen (dem Genie, wie das letzte Zitat zeigt) und der Vernunft bemerkbar, und die Fähigkeit, die Schönheit wahrzunehmen, wird mit dem Gefühl verbunden; ja, die gefühlsbestimmte und ästhetische Sicht der Welt scheint tiefer als die rationale. Im Eloge de Richardson hält Diderot das auf Introspektion und Intuition gegründete Gefühl für das Kriterium, das dem Leser die Unterscheidung zwischen den großen und den weniger bedeutenden Werken erlaubt, und schreibt dem Romanautor eine tiefere Durchdringung der Wirklichkeit zu, als man sie in den historiographische Werken finden könnte.
In Italien unterscheidet Muratori schärfer als die Mehrzahl der Franzosen zwischen Dichtung und Rhetorik. Zwar definiert er das Schöne, «il bello dilettante e movente con soavità l'umano intelletto», als «un lume e un aspetto risplendente del vero», doch unterscheidet er nicht nur die Dichtung von den Wissenschaften, weil jene das Wahre nachahmt, diese hingegen das Wahre zu erkennen suchen, sondern auch von der Beredsamkeit (oratoria) und von der Historie: Die Beredsainkeit stelle das Wahre dar («dipinge»), um von ihm zu überzeugen («per persuaderlo», die Historie wolle das Wahre wiedergeben, «come egli è, e dirittamente col fin d'istruire e di giovare». Die Poesie hingegen «dipinge e rappresenta il vero come egli è, e pur come egli dovrebbe e potrebbe essere; e ... lo dipinge dirittamente col fin di dipingere, d'imitare, e di recar con questa imitazione diletto, empiendo la fantasia altrui di bellissime, strane e niaravigliose immagini». Während in der Beredsamkeit die Phantasie nicht wichtig ist, besteht eine enge Verbindung zwischen ihr und der Dichtung, denn diese sucht das «bello, maraviglioso e sublime», weil «La novità ..., la rarità, il maraviglioso che si spira dalla materia o dall'artificio, o pur da tutti e due, costituisce ... il bello poetico». Muratori stellt also die Rationalität, die zur Überzeugung und zur Suche nach der Wahrheit gehört, dem nicht rationalen Vermögen der Phantasie entgegen, und obwohl er auch die Phantasie mit der Wahrheit verbindet, gibt er ihr wenigstens im Ansatz und grundsätzlich dieselbe Würde wie den Vermögen, die mit der Ratio oder herkömmlicherweise mit der Erkenntnis verbunden werden. So bereitet er die romantische Auffassung von der Dichtung vor, nach der die Poesie auf einem tieferen Wissen von der Wahrheit gegründet und diese unvereinbar mit einem langsamen und kalten rationalen Vorgehen und miteine rhetorischen Ausarbeitung ist. Aber während die französischen Vorläufe dieser romantischen Theorie dazu neigen, im Gefühl dieses Vermögen zu sehen, betont Muratori die Bedeutung der Phantasie.
In Spanien ist Luzán, der wichtigste Autor einer neoklassische Poetik und einer der Hauptvertreter des Neoklassizismus, nicht nur mi der italienischen und französischen Literaturtheorie vertraut, sondern auch von ihr stark beeinflusst, und häufig gibt er die Gedanken Muratoris wieder, mit denen er sich während seiner in Neapel und Sizilie verbrachten Jugend beschäftigt hat. Er will die spanische Dichtung erneuern, wie Muratori die Italiens reformieren will. Es ist als Reaktion auf das Barock zu verstehen, wenn er die Urteilskraft, das «juicio» (iudicium) so betont, den gemäßigten guten Geschmack; doch ist er nicht nur ein Rationalist. Er erkennt an, dass die Dichtung zwei Prinzipien hat: die Schönheit, die er im Anschluss an Muratori mit der Wahrheit verbindet, und die Süsse, «dulzura». Dieser Begriff, der vom Horazischen «dulce», «dulcia» hergeleitet ist bedeutet in der Theorie Luzáns die Rührung oder Weckung der Affekte (und wir erinnern uns, dass auch Du Bos bei dem Hinweis auf die Bedeutung des Gefühls und der Rührung zwei Verse Horazens zitiert hat). Luzán setzt sogar die Schönheit, die in der Künstlichkeit, in der Logik und Klarheit besteht, und die Süsse einander entgegen, die in der natürlichen Einfachheit und im Affekt oder Gefühl bestehen kann. So schreibt er von zwei Gedichten Martials und Garcilasos: «En aquel pentámetro de Marcial resplandece una suma belleza por la brevedad y claridad con que se expresa el concepto, o por el artificio de la locución ... El terceto de Garcilaso no tiene nada de esto. Conocía nuestro poeta que la demasiada brevedad a veces diminuye el efecto y que se opone a la pasión lo artificioso de las palabras, por lo que, denudado el concepto de Marcial de todo ese artificio, le dejó en su sencillez natural, y amplificándole con más efecto, quiso hacerle menos bello, por hacerle más dulce».
Doch wird in der spanischen Theorie die Definition der Dichtung durch das Gefühl erst üblich, als in Spanien die Theorie Hugh Blairs bekannt wird, Dieser englische Literaturtheoretiker, dessen Namen mit der Ossian‑Mode in ganz Europa verbunden ist, kann doch wegen seiner Lectures on Rhetoric and Belles Lettres als einer der Parteigänger des aufgeklärten Rationalismus angesehen werden. So schreibt er: «... when we are employed, after a proper manner, in the study of composition, we are cultivating reason itself ... The study of arranging and expressing our thoughts with propriety, teaches to think, as well as to speak, accurately». Aber er unterscheidet zwischen Eloquenz und Poesie; jene ist die Kunst, so zu sprechen, dass der Redner seine Zwecke erreicht; diese definiert er als «the language of passion, or enlivened imagination, formed, most commonly, into regular numbers,» und obwohl Blair nicht glaubt, dass man in jedem Fall die genaue Grenze zwischen Dichtung und Beredsamkeit bestimmen könne, beteuert er doch, dass sie ihrem Wesen nach vollständig verschieden seien.
So nimmt Blair die früheren Versuche wieder auf, die Dichtung so zu bestimmen und zu begründen, dass sie nicht mehr von der Ratio oder einer rational interpretierten Wahrheit und Wahrscheinlichkeit abhängen. Seine Vorgänger in Europa hatten betont, dass die Grundlage der Dichtung die Phantasie oder das Gefühl wäre; die Franzosen und Luzán hatten die Bedeutung des Gefühls unterstrichen, von den untersuchten Theoretikern hatte nur Muratori, vielleicht unter dem Einfluss der Literaturtheoretiker des Barock, die Möglichkeit einer Grundlage in der Phantasie gesehen. Doch kann man in der Theorie des 18. Jahrhunderts das Streben feststellen, die Dichtung von einer zu rationalen und auch zu oberflächlicher Interpretation zu befreien und sie zugleich von der Rhetorik und Beredsamkeit zu unterscheiden, weil die Rhetorik nur einen Zugang zu den äußerlichsten Aspekten der Dichtung erlaubte. Obwohl nun Blair die genannten zwei Möglichkeiten beide erkennt, d.h. die Dichtung sowohl durch die Phantasie als auch durch das Gefühl begründet, vertieft er doch nicht die Auffassung, wonach die Dichtung mit einem Vermögen des Menschen verbunden werden muss, das die Welt zu begreifen und zu verstehen erlaubt, aber von der Ratio verschieden und sogar tiefer als sie ist. Er unterstreicht nicht, wie es doch wenigstens teilweise Muratori getan hatte, die Würde der Phantasie, aber auch nicht die des Gefühls. Dennoch hat seine Definition der Dichtung als Sprache der Phantasie und der lebhaften Leidenschaft in der spanischen Romantik üblich und sogar die Grundlage für die Dichtungslehre der spanischen Romantiker werden können. Das lässt uns erkennen, wie viel die Literaturtheorie des 18. Jahrhunderts zur Erarbeitung der romantischen Dichtungsauffassung und zur Trennung von Rhetorik und Dichtung im 19. Jahrhundert beigetragen hat.“
[Krömer, Wolfram: „Die Vorbereitung der Trennung von Dichtung und Rhetorik in den Poetiken des 18. Jahrhunderts“. Estrato da: «Retorica e poetica». Quaderni del Circolo Filologico-Linguistico Padovano – 10, Liviana Editriche in Padova, 1979]
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